Der Blaue Reiter, lockerer Zusammenschluss von Künstler*innen, ausgehend von München und den Initiator*innen Franz Marc, Gabriele Münter und Wassily Kandinsky, 1911 bis 1.8.1914 (Kriegserklärung Deutschlands und Ausweisung aller Ausländer).
Der Blaue Reiter
Mitglieder
Marc, Maria
Kandinsky, Wassily
Kanoldt, Alexander
Jawlensky, Alexej von
Marc, Franz
Kahler, Eugen von
Kubin, Alfred
Le Fauconnier, Henri
Münter, Gabriele
Rousseau, Henri (1844)
Niestlé, Jean-Bloé
Macke, August
Werefkin, Marianne von
Klee, Paul
Schönberg, Arnold
Arp, Hans
Bechteev, Vladimir Georgievič
Bloch, Albert
Bossi, Erma
Burljuk, David Davidovič
Burljuk, Vladimir Davidovič
Campendonk, Heinrich
Dahm, Helen
Delaunay, Robert (1885)
Epstein, Elisabeth
Erbslöh, Adolf
Bloé Nistlé, Jean
Hartmann, Thomas A. de
Der B. ist kein in einem Register eingetragener Ver. mit Satzung und Mitgliederlisten wie Die Brücke oder die Neue Künstlervereinigung München (NKVM), sondern im Grunde genommen der Name eines Almanachs und zweier Ausst., an denen sich unterschiedliche Künstler*innen beteiligen. B. als Gruppenname entsteht erst, als Kandinsky 1930 einen Rückblick schreibt, v.a. aber durch den von Carl Einstein verfassten Bd der Propyläen Kunstgesch. über die Kunst des 20. Jh. (1931). Vorausgegangen ist die Gründung der NKVM (v.e.) mit Kandinsky und Münter als Gründungsmitgliedern und der Eintritt Marcs im Febr. 1911. Bald darauf intensiviert sich der Kontakt zw. ihm und Kandinsky, was auch zu Spannungen mit and. Mitgl. führt. Auf eine Auseinandersetzung um die Stellung der Nichtkünstler*innen unter den Mitgl. folgt die Planung für den Almanach, der den Namen B. bekommt. Kandinsky und Marc verfolgen außerdem den Plan, bei der 3. Ausst. der NKVM wieder auswärtige Künstler*innen einzuladen, was die Mitgl. um Adolf Erbslöh und Alexander Kanoldt aus Kostengründen ablehnen. Als bei der Jurysitzung am 2.12.1911 Kandinsky die lt. Satzung von den Maßen her etwas zu große Komposition V (1911; Priv.-Slg) einreicht und diese von der Mehrheit der Mitgl. abgelehnt wird, treten Kandinsky, Marc und Münter spontan aus, ihnen folgen in den nächsten Tagen Alfred Kubin und Henri Le Fauconnier sowie der Komponist Thomas A. de Hartmann. Innerhalb von zwei Wochen gelingt es den drei Erstgenannten, eine Ausst. mit 43 Werken zusammenzustellen, die zeitgleich mit derjenigen der NKVM in der Münchner Gal. Tannhauser gezeigt wird und "Die erste Ausst. der Red. des B." heißt (ein offensichtlich falscher Poststempel auf einer Postkarte von Marc an Kandinsky führte zu der Annahme, die Ausst. sei bereits länger geplant gewesen). Zu den Künstler*innen zählen neben Kandinsky, Marc und Münter die Franzosen Robert Delaunay und Henri Rousseau, die Russen David Davidovič und Wladimir Davidovič Burljuk sowie die in Paris lebende Elisabeth Epstein, die Freunde Heinrich Campendonk, August Macke und Jean Bloé Nistlé, außerdem Albert Bloch, Eugen von Kahler und Arnold Schönberg. Die Ausst. wandert 1912 in weitere Städte wie Köln, Berlin, Bremen, Hagen/Westf., Frankfurt am Main, Hamburg, 1913 nach Budapest, 1914 nach Skandinavien und unterscheidet sich von and. Bewegungen der Avantgarde v.a. durch "ihre Offenheit hinsichtlich der künstlerischen Ausdrucksformen" (Hoberg, in: Gruppendynamik, 2021, 168). Bereits am 12.2.1912 wird die 2. Ausst. in der Kunsthandlung Goltz eröffnet (bis 18.3.), die sich auf graf. Arbeiten beschränkt (trotz des Untertitels "Schwarz-Weiß" werden auch farbige Aqu., Gouachen und Zchngn gezeigt). Zu den Künstler*innen der 1. Ausst. kommen viele and. hinzu, v.a. Paul Klee und Kubin aus dem eig. Kreis sowie Maria Marc (auf der 1. Ausst. mit Gem. nicht vertreten), dazu Mitgl. der Brücke, russ. Konstruktivist*innen, Hans Arp u.a. Schweizer. Der heterogene Char. der Ausst. ist nicht durch die Fülle zu erklären, die unterschiedlichen Stilrichtungen, die sich in den 315 Werken zeigen, sind Programm. Auch sie wird v.a. negativ kritisiert, kann aber noch in Köln (WRM) gezeigt werden. Einige der ausgestellten Werke werden auch im Almanach abgebildet, der im Mai 1912 erscheint und ebenfalls kein einheitliches Programm vermittelt, sondern lt. Kandinsky "ein Sammelplatz derjenigen Bestrebungen sein [sollte …], deren Grundtendenz ist, die bisherigen Grenzen des künstlerischen Ausdrucksvermögens zu erweitern." (cf. Gruppendynamik, 2021, 216). Die programmatischen Artikel von Marc (Geistige Güter, Die 'neuen Wilden' Deutschlands, Zwei Bilder) und Kandinsky (Über die Formfrage) bilden die Klammern, zw. denen sich die Texte and. bildender Künstler wie D.Burljuk (Die 'Wilden' Russlands) oder Macke (Die Masken) sowie Musikern wie Schönberg (Das Verhältnis zum Text) oder Thomas A. de Hartmann (Über die Anarchie in der Musik) befinden, bebildert mit zeitgen. Gem. und Grafiken, aber auch mit Kunstwerken and. Zeiten, jap. Hschn. u.a. "Exotika", Kinderzeichnungen, Volkskunst, die nur selten eine Verbindung zu den Texten aufweisen und auch in ihren Gegenüberstellungen keine inhaltlichen Bezüge besitzen. Doch obwohl die beiden Hrsg. Kandinsky und Marc die Utopie einer universalen Kunst beschwören, bleiben sie der kolonialen Weltordnung vor dem 1. WK verhaftet wie Hoberg und Mühling ausführlich darlegen (Gruppendynamik, 2021). - Der Almanach erfährt 1914 eine 2. Aufl., es folgt allerdings keine Forts. wie geplant. Auch die Planung einer ill. Bibelausgabe ab 1913 verläuft im Sande. An ihr sollten neben Kandinsky und Marc Erich Heckel, Klee, Oskar Kokoschka und Kubin beteiligt sein. Auf weiteren Ausst. wie dem Sonderbund in Köln 1912 und v.a. der von Marc organisierten Reaktion darauf mit den Refüsierten dieser Ausst. in der Berliner Gal. Der Sturm von Herward Walden sind wechselnde Künstler*innen zu sehen, schon vor ihrem Austritt aus der NKVM werden dort auch Werke von Alexej von Jawlensky und Marianne von Werefkin gezeigt. Sie stellen dann auch in dem von Walden 1913 organisierten Ersten dt. Herbstsalon mit aus. In seiner Berliner Gal. präsentiert er 90 Künstler aus zwölf Ländern mit 366 Werken, womit ihm eine der bedeutendsten Übersichtsausstellungen der Avantgarde in der damaligen Zeit gelingt. Mitorganisatoren, die auch die Hängung verantworten, sind v.a. Macke und Marc. Aus dem Umfeld des B. sind natürlich auch Kandinsky und Münter vertreten, außerdem Vladimir Georgievič Bechteev, Campendonk, Klee und Kubin. 1914 folgt die Ausst. in der Dresdner Gal. Ernst Arnold u.d.T. Die neue Malerei, die mit Werken von Maler*innen des B., der NKVM und der Brücke einen Überblick über die expressionistische Kunst im deutschsprachigen Raum bietet (so Richard Reiche im Kat.). Mit dem Beginn des 1. WK enden die Aktivitäten um den B. notgedrungen. Die Russen müssen Deutschland innerhalb von 48 Stunden verlassen, Macke und Marc werden eingezogen und fallen. Erst A. der 1930er Jahre rückt der B. wieder ins Bewusstsein, gilt nach 1933 als entartet und wird 1949 mit einer großen Ausst. im Münchner Haus der Kunst als Gruppe, die so nie existierte, 'wiederentdeckt'. E. des 20.Jh. beginnt die wiss. Aufarbeitung der Fakten, v.a. ausgehend vom Lenbachhaus, das Dank der Schenkung von Münter 1957 und der dort angesiedelten, 1966 gegr. Gabriele Münter- und Johannes Eichner-Stiftung die größte Slg an Werken besitzt (erweitert durch weitere Schenkungen und Übertragungen wie z.B. der Slg Bernhard Koehlers durch dessen Erben). Auf eine Ausst. von 1999, bei der v.a. die NKVM einer kritischen Sichtweise unterzogen wird, und mehreren Sammlungskatalogen folgt 2021 die groß angelegte Untersuchung im Rahmen der von der Kulturstiftung des Bundes geförderten "Gruppendynamik". Hinzu kommen and. Ausst. mit umfangreichen Kat. wie diejenige der KH Bremen 2000. - Die beiden Ausst. und der Almanach zeigen, dass es kein stilistisch verbindliches Konzept gab, sondern dass v.a. die "innere Notwendigkeit" zählte, sei die Form abstrakt oder gegenständlich. Sie musste jedoch für einen "inneren Klang" oder "das Geistige" stehen, wie es Kandinsky in seinem Artikel Über die Formfrage formulierte. Das Interesse an den vielfältigen Kunstäußerungen war in der Zeit, in der die beiden Ausst. stattfanden und der Almanach erschien, revolutionär. Inzwischen müssen sich die Ideen des B. aber einer kritischen Betrachtungsweise unterziehen, da "seine utopischen Universalismen heute genauso innovativ wie widersprüchlich" erscheinen (ibid., 21).
W.Kandinsky/F.Marc, Der B., M. 1912.
Einzelausstellungen:
Hist. Ausst.: München: 1911 Gal. Tannhauser: Erste Ausst. der Red. Der B. (mit weiteren Stationen 1912-1914); 1912 Kunsthandlung Goltz: Zweite Ausst. der Red. Der B., Schwarz-Weiß (mit weiteren Stationen). - Ausst.: München, Lenbachhaus: 1963 Der B. in der StG im Lenbachhaus; 1999 Der B. und das Neue Bild; 2021 Gruppendynamik, der B. / 1986 Bern, KM: Der B. / 1998 Berlin, Brücke-Mus.: Der B. und seine Künstler / 1989 Hannover, Sprengel Mus.: Der B., Kandinsky, Marc und ihre Freunde / 1996 Dortmund, Mus. Ostwall: Von der Brücke zum B., Farbe, Form und Ausdruck in der dt. Kunst von 1905 bis 1914 / Murnau, Schloss-Mus.: 1998 Der Almanach "Der B."; 2011 Die Maler des B. und Japan; 2012 Münter-Haus: "Die blaue Reiterei stürmt voran" / 2000 Bremen, KH: Der B. / 2003 Ludwigshafen, Wilhelm-Hack-Mus.: Der B., die Befreiung der Farbe; Bielefeld, KH: der B., Avantgarde und Volkskunst; Mailand, Fond. Antonio Mazzotta: Il cavaliere azzurro / 2009 Baden-Baden, Mus. Frieder Burda: Der B. / 2010 Wiesbaden, Mus.: Das Geistige in der Kunst (alle K). -
Gruppenausstellungen:
Berlin, Gal. Der Sturm: 1912: Zurückgestellte Bilder des Sonderbund Cöln; 1913: Erster Dt. Herbstsalon; 1988 Berlinische Gal.: Stationen der Moderne / 1914 Dresden, Gal. Ernst Arnold: Die Neue Malerei / München: 1949 Haus der Kunst: Der B., München und die Kunst des 20. Jh.; 1999 Lenbachhaus: Der B. und das Neue Bild / 1996 Dortmund, Mus. Ostwall: Von der Brücke zum B., Farbe, Form und Ausdruck in der dt. Kunst von 1905 bis 1914 / 2011 Paris, Pin.: Expressionismus & Expressionismi / 2021 Wuppertal, Von der Heydt-Mus.: Brücke und B. (alle K).
Weitere Lexika:
Wilhelmi, 1996; H.van den Berg/W.Fähnders (Ed.), Avantgarde (Metzler Lex.), St. 2009.
Gedruckte Nachweise:
W.Kandinsky, Das Kunstblatt 14:1930(2)57-60; C.Einstein, Die Kunst des 20. Jh. (Propyläen Kunstgesch. Bd 16), B. ³1931; L.-G. Buchheim, Der B. und die "NKVM", Feldafing 1959; R.Gollek, Der B. im Lenbachhaus, M. 1974 (41988); A.Hüneke (Ed.), Der B., Dok. einer geistigen Bewegung, L.1986 (42011); M.M. Moeller, B., Köln 1987; K.Zylmans/J.Hoogeveen, Kommunikation über Kunst, Leiden 1988; A.Zweite (Ed.), Der B. im Lenbachhaus, M. 1991; H.Friedel/A.Hoberg, Der B. im Lenbachhaus, M. 2000 (³2013); J.Horsley, Der Almanach des B. als Gesamtkunstwerk, Diss. Tübingen, Ffm. 2006; Der B., 2 Bde, M. 2008 (Faks. des Almanachs und Textband von A.Hoberg); M.Mühling u.a. (Ed.), Gruppendynamik, der B., B. 2021 (Lit.)
Onlinequellen:
Myung-Seon Oh, Der B. und der Japonismus, 2006
Persönliche Auskünfte:
K.Hellwig, München