Kahn, Louis (Louis Isadore; geb. Schmuilowsky, Itze-Leib oder Leiser-Itze ), US-amer. Architekt, Maler, Zeichner estnischer Abstammung, *20.2.1901 (julianischer Kalender) vermutlich Kuressaare, möglicherweise Pärnu/Estland (damals im russ. Reich; Geburtsort nicht zweifelsfrei zu klären), †17.3.1974 New York, lebte in Philadelphia.
Kahn, Louis
Frühe Kindheit in Kuressaare. Mit drei Jahren erleidet er lebenslang sichtbare Verbrennungen im Gesicht, als er - fasziniert vom Anblick - glühende Kohlen in einer Schürze sammelt, die daraufhin in Brand gerät. 1905 oder '06 Emigration in die USA nach Philadelphia. 1912 Namenswechsel der Fam. zu Kahn. 1914 oder 1915 US-amer. Staatsbürgerschaft. Als Kind für Musik und Kunst begabt, fertigt K. mit selbstgemachten Kohlestiften Zchngn, die er verkauft. Auf der Central High School mit Baukunst konfrontiert, beschließt er mit dem lebenslangen Freund Norman Nathaniel Rice Architekt zu werden. Stud.: 1920-24 Univ. of Pennsylvania bei Paul Philippe Cret. Daneben tätig als Zeichner in Archit.-Büros in Philadelphia, u.a. 1921 bei Hoffman-Henon, 1922 bei Hewitt & Ash. Ab 1924 neben N.Rice für den Architekten John Molitor tätig (u.a. Sesquicentennial Expos., 1926), 1927 für den Bühnenbildner William H. Lee. 1928-29 Europareise, um Wohnbau zu studieren; in Paris besucht er N.Rice, der nun für Le Corbusier arbeitet. In Philadelphia 1929-30 Entwerfer im Büro von P.Cret (u.a. für die Folger Shakespeare Libr., Washington/D.C.), 1930-32 bei Zantzinger, Borie & Medary (u.a. für das U.S. Department of Justice Building, Washington/D.C.). 1932-35 mit Dominique Berninger Mitbegr. der wegweisenden "Archit. Research Group" junger Architekten, die Vorschläge für Wohnbau und Slumauflösungen erarbeiten. Um 1933 Wohnbaustudien für die Stadtplanungskommission von Philadelphia, 1937 Berater der Philadelphia Housing Authority, 1939 der US Housing Authority. Um 1934 bis Ende der 1930er Jahre zudem erste eig. Archit.-Praxis in Partnerschaft mit Solis Kopelan. 1940 Partnerschaft mit George Howe, dem führenden modernistischen Architekten Philadelphias. Gemeinsam errichten sie 1940-42 die Soldatensiedlung Pine Ford Acres in Middletown/Penn. und mit dem hinzugekommenen Oscar Stonorov 1941-44 Carver Court in Coatesville/Penn. für Rüstungsarbeiter. 1945 Beginn der Zusammenarbeit mit der Architektin Anne Tyng. 1950-51 Architect in Residence der Amer. Acad. in Rom und Reisen im Mittelmeerraum bis nach Ägypten, wo die antike Archit. einen profunden Eindruck hinterlässt. Berater der Philadelphia City Planning Commission (1946-52 und 1961) und der Philadelphia Redevelopment Authority (1951-54); K.s radikale Neuentwicklungsstudien für das Stadtzentrum werden als undurchführbar erachtet. 1959 hält K. den Schlussvortrag auf dem vom Team X organisierten letzten CIAM-Kongress in Otterlo/Niederlande. Ab 1959 unterhält K. eine Beziehung zu der Landschaftsgestalterin Harriet Pattison, der gemeinsame Sohn Nathaniel K. dreht 2003 einen Oscar-nominierten Dokumentarfilm über K. Lehrtätigkeit: 1947-52 Yale Univ., New Haven/Conn.; 1956 Massachusetts Inst. of Technology, Cambridge/Mass.; 1957-74 Univ. of Pennsylvania, Philadelphia; 1961-67 Princeton University. Mitgl.: T-Square Club, Philadelphia (1948 Präs.); 1953 Fellow des AIA; 1964 Nat. Inst. of Arts and Letters; 1962 World Acad. of Arts and Sciences; 1968 Amer. Soc. of Arts and Science; 1970 R.Soc. of Arts, London. Zahlr. Ausz.: u.a. 1960 Arnold W. Brunner Memorial Prize; 1972 R. Gold-Med. des RIBA, London; 1973 Gold-Med. des Nat. Inst. of Arts and Letters. Ehrendoktorate: u.a. 1964 Univ. of North Carolina; 1964 Politecnico di Milano; 1965 Yale Univ., New Haven; 1968 Maryland Inst. College of Art, Baltimore; 1974 Columbia Univ., New York (postum). Tief verschuldet und zuletzt fast ständig auf Reisen (bes. nach Bangladesch und Indien) stirbt er unerwartet auf der Durchreise in New York. - K. errichtet relativ wenige, dafür allerdings höchst bedeutsame Bauten und wird als Lehrer prägend. Bisweilen wird er als der einflussreichste Architekt der 2.H. des 20.Jh. angesehen und sein Schaffen als zeitlos beschrieben. Trotzdem besteht befremdlicherweise Unsicherheit selbst über manche einfache biogr. Fakten. Archit. ist für K. in erster Linie Kunst, autonom und von der Funktion a priori unabhängig. Daneben hat sie aber auch wichtige humanitäre und soziale Aspekte, was sich bereits in der frühen Konzentration auf Wohnbau ausdrückt wie auch in der aufopferungsvollen Tätigkeit für das von Armut geprägte Bangladesch. In der Beaux-arts-Trad. von P.Cret ausgebildet, entwirft K. bald auch in der funktionalistischen Formensprache der sich entwickelnden mod. Archit., fühlt sich dabei jedoch stets unbehaglich. Später wird auch Le Corbusier als Vorbild wichtig. Der Romaufenthalt 1950 ist von ausschlaggebender Bedeutung für einen neugefundenen formalen Ansatz. K. rezipiert die Komp. antiker Bauwerke und deren Monumentalität. Hierbei sieht er das Wesentliche nicht in den von Säulenordnung geprägten Fassaden, sondern in der ruinenhaften Erscheinungsweise, die die fundamentale Plastizität der Komplexe und deren Konstruktionsprinzipien prägnant zum Ausdruck bringt. Er beobachtet einige Bauten über längere Zeit bei langsam wechselnden Lichtverhältnissen und erkennt das Licht als die für ihn zentrale Frage in der Architektur. Wie in der Zchngn für K. der Strich dort ist, wo das Licht nicht ist, so sieht er im griech. Tempel die Säule dort, wo das Licht nicht ist. Zurück in den USA erhält er, z.T. auf Einfluss von G.Howe zurückgehend, den ersten wichtigen Auftrag, den Bau der Yale Univ. AG (1951-53), in deren Inneren er vielfach Dreiecksformen anwendet (u.a. die Deckenstruktur und die Form des Treppenhauses). Mit dem sog. Trenton Bath House (1954-55), dem einzig ausgef. Element eines geplanten jüdischen Gemeinschaftszentrums in Ewing/N.J., findet K. erstmals sein charakteristisches Vokabular. In Zusammenarbeit mit A.Tyng, die für die purifizierte Geometrie verantwortlich zeichnet, entwickelt er in dem elementaren Bau eine Verknüpfung von Struktur und Licht. Programmatisch aufgefasst, löst sich K. völlig vom zeitgen. Funktionalismus und thematisiert archit. Grundfragen. Er kontrastiert Innen und Außen, Zentralität, Achsialität und Diagonalität, Materialität und Leere im selben Element, mon. Wirkung bei kleinen Ausmaßen u.ä. Präsentiert sich der Außenbau in festungshafter Härte und fensterloser Hermetisierung, so bietet sich im Inneren eine spirituelle Ruhe, die mit den über Lichtschlitzen schwebend erscheinenden Pyramidendächern eine Beziehung zum Umraum etabliert, behütend und gleichzeitig offen. Die wenig späteren entstandenen Richards Medical Research Laboratories in Philadelphia (1957-60; das verknüpfte Biology Building bis 1965) werden rasch als ein wegweisender Pionierbau erkannt, der mit seiner Frische Probleme des Stils schlicht negiert. K. wird somit als Führungsfigur einer als Philadelphia School bezeichneten, vom internat. Stil unabhängigen alternativen Ausdrucksweise mod. Baukunst gesehen. Durch eine Gruppierung von Türmen, die weder in der Höhe noch im Grundriss eine vereinheitlichte Gestalt aufweisen und mit einer Vielzahl von Vorsprüngen aufwarten, greift K. auf hist. Vorbilder zurück; oft nennen Kritiker die Stadtsilhouette von San Gimignano als Anstoß, während K. selbst auf schott. Wohnburgen verweist. Erstmals veranschaulicht er hier im Großen sein bereits im Trenton Bath House durchgeführtes hierarchisches Konzept der "bedienten und bedienenden Räume" durch eine strikte Trennung der Laboratorien von den Treppen, Luftschächten u.ä., die in separate Türme verlegt sind. Er betont auch die materielle Schwere und konstruktive Prinzipien des Baus, u.a. durch ein am Außenbau gezeigtes Stahlbetonskelett. Dem Salk Inst. for Biological Studies in La Jolla/Calif. (1959-65) - vom Auftragsgeber Jonas Salk als Gebäude mit hohem künstlerischen Anspruch gewünscht, in das er auch Picasso einladen könnte - legt K. das Konzept der Dualität des Messbaren (Wissenschaftlichen) und des Unmessbaren zugrunde. Die Nähe zum Meer wird ein bestimmender Faktor und gibt Anlass zu zurückhaltend kontemplativer Theatralität in einem von ital. Klöstern inspirierten Design. Alle Büros der Wissenschaftler erlauben einen ungehinderten Blick auf den Pazifik. In alternierenden Geschossen nimmt die Skelettstruktur der zwei Hauptflügel Zellen eingeschobener Büros auf oder bleibt für Kommunikationswege leer. Eine Eingangsplaza flankierend sind sie gleichermaßen als Kulissen oder als Theaterlogen lesbar, während sich in der Mittelachse der Plaza selbst das stille Spektakel einer Wasserrinne abspielt, die dem Meer zuzustreben scheint. Weitere bed. Bauten der 1960er Jahre sind die Bibl. der Phillips Exeter Acad. in Exeter/N.H. (1965-72), das Kimbell AM in Fort Worth/Tex. (1966-72; mit einer Reihung tonnengewölbter Räume und einer subtilen Lichtführung) und das Yale Center for British Art in New Haven (1969-77). Inzwischen ist seine Praxis auch internat. ausgerichtet, bes. mit zwei langwierigen, erst postum voll. Projekten in Asien, die viel von K.s Zeit beanspruchen: dem Indian Inst. of Management in Ahmedabad (1962-74) und dem als sein Hw. anzusehenden Haus der Nationalversammlung von Bangladesch (Jatiya Sangsad Bhaban) inmitten eines ausgreifenderen, ebenfalls von K. entworfenen Komplexes in Dhaka (1962-83; in pakistanischem Auftrag als zweiter Reg.-Sitz im damaligen Ostpakistan beg.). In beiden Projekten wird er von lokalen Partnern bes. dafür gepriesen, Mat. in spiritueller Weise zu begreifen und erfahrbar zu machen. Die beeindruckende Lichtwirkung des im Inneren vielfach geschichteten Baus der Nationalversammlung in Dhaka ist wohl gesucht, gleichzeitig aber auch das Ergebnis einer ausgeklügelten Klimakontrolle, die das Tageslicht limitiert. In der burgenhaften Gestalt (dem ma. Castel del Monte in Apulien ähnlich) gelangt K. zu einer Lösung, die zugleich futuristisch als auch archaisch erscheint - einerseits technisch innovativ, andererseits in althergebrachter Bauweise mit Bambusgerüsten errichtet. Dies unterstreicht die häufig berichtete Legende, der noch unvollendete Gebäudekomplex wäre von pakistanischen Kampffliegern während des Unabhängigkeitskriegs 1971 verschont geblieben, weil sie ihn für eine antike Ruine ansahen. - Mat.-Gerechtigkeit ist für K. von wesentlicher Bedeutung. Statt Türstürzen findet er etwa bei Backsteinbauten Bogenkonstruktionen vom Mat. gefordert und damit unabdinglich, während er unter der Prämisse der Aufrichtigkeit bei Betonsystemen gussbedingte Oberflächenfehler nicht zu verbergen sucht. Rahmen und Streben erfahren eine besondere Betonung. Die lastende Schwere der Bauten wird zunehmend deutlicher, aber bisweilen kontrastiert mit dem Motiv des Schwebens (z.B. Dhaka, Trenton). Er arbeitet mit Reihung, Schachtelung und Zentrifugalität, strengen Konturen und einer fast mystisch aufgefassten Geometrie, die er subtil deformiert. Dies äußert sich auch in Akkumulation repetitiver Elemente sowohl in Einzelbauten (z.B. Kimbell AM) als auch in Stadtstrukturen (z.B. Reg.-Viertel von Dhaka). Verkantungen geometrischer Körper führen zur Entstehung ungewöhnlicher Resträume und Wechseln der achsialen Ausrichtung (z.B. Fisher House, Hatboro/Penn., 1960-67). Die bevorzugte Gest. von Volumen aus der Zusammenführung betont flächiger Wände, deren Kanten nicht völlig zusammentreffen, bietet häufig einen Anlass für schlitzartige Fenster oder Durchgänge. Dies kontrastiert er auch mit eingeschnittenen Öffnungen, die als große Gesten angelegt sind (z.B. die riesigen Kreisöffnungen im Inneren der Philips Exeter Libr. oder Kreissegmente und Dreiecke in der Nationalversammlung von Dhaka). Die Lichtführung bleibt zeitlebens ein bestimmender Faktor. Wenngleich selbst jüdisch, ist K. in seiner Archit. nicht religiös fixiert. Neben einer Moschee in Dhaka baut er Synagogen und Kirchen wie die First Unitarian Church in Rochester/N.Y. (1959-63). Von den unausgeführten Sakralbauten ist bes. die Hurva-Synagoge in Jerusalem (1967-74) hervorzuheben, bei der er die Ruine der hist. Synagoge konserviert und in Gedächtnisgärten inkorporiert. Seine ebenfalls unausgef. Pläne für das Dominican Motherhouse St.Catherine de Ricci in Media/Penn. (1965-69) wird in jüngerer Zeit als paradigmatisch für K.s Schaffen angesehen. Zu K.s eher kuriosen Entwürfen zählt die als Konzertbühne konzipierte Yacht Point Counterpoint (1964-67) des Amer. Wind Symphony Orchestra für Robert Boudreau. Die Bewunderung für K. zeigt sich auch darin, dass seine Pläne (1973-74) für den Franklin D. Roosevelt Four Freedoms Park auf dem Roosevelt Island, New York, mehr als drei Jahrzehnte nach seinem Tod schließlich 2010-12 verwirklicht werden.
Einzelausstellungen:
1961 New York, MMA (K) / 2012-13 Rotterdam, Nederlands Archit.-Inst. (danach Weil am Rhein, Vitra Design Mus., K). -
Gruppenausstellungen:
1929, '30, '33 Philadelphia, PAFA (Gem. und Zchngn)
Thieme-Becker, Vollmer und AKL:
Vo3, 1956
Weitere Lexika:
M.Emanuel (Ed.), Contemp. architects, N.Y. u.a. 31994; DA XVII, 1996; Dict. de l'archit. du XXe s., P. 1996
Gedruckte Nachweise:
V.Scully, L.I.K., N.Y. 1962; R.S. Wurman/E.Feldman (Ed.), The notebooks and drawings of L.I.K., N.Y. 1962; C., Mass./Lo. 21973; A.E. Komendant, 18 years with architect L.I.K., Englewood, N.J. 1975; G.W. Close, L.I.K. bibliogr., Monticello, Ill. 1980; L.I.K. Drawings (K), L.A. 1981; A.Tyng, Beginnings. L.I.K.s philosophy of archit., N.Y. 1984; R.S. Wurman (Ed.), What will be has always been. The words of L.I.K., N.Y. 1986; The L.I.K. arch., Lo./N.Y. 1987; J.P. Brown, L.I.K. A bibliogr., Lo./N.Y. 1987; H.Ronner/S.Jhaveri, L.I.K. Complete work 1935-1974, Basel 21987; C.R. Smith, Paul Rudolph and L.K. A bibliogr. Metuchen, N.J./Lo. 1987; P.C. Loud, The art museums of L.I.K. (K Wander-Ausst.), Durham, N.C. 1989; D.B. Brownlee/D.G. De Long, L.I.K. In the realm of archit., N.Y. 1991; J.Hochstim, The paintings and sketches of L.I.K., N.Y. 1991; A.Latour (Ed.), L.I.K. Writings, lectures, interviews, N.Y. 1991; U.Buttiker, L.I.K. Licht und Raum, Basel 1993; E.J. Johnson/M.J. Lewis, Drawn from the source. The travel sketches of L.I.K. (K Williamstown), C., Mass./Lo. 1996; A.G. Tyng (Ed.), L.K. to Anne Tyng. The Rome letters, 1953-1954, N.Y. 1997; L.I.K. Conversations with students, Houston 2 1998; K.-P. Gast, L.I.K. The idea of order, Basel 1998; id., L.I.K., Basel 1999; S.Solomon, L.I.K.s Trenton Jewish Community Center, N.Y. 2000; K.-P. Gast, L.I.K. Das Gesamtwerk, M. 2001; N.Kahn My architect, 2003 (Dokumentarfilm); R.McCarter, L.I.K., Lo. 2005; J.Rosa, L.I.K. 1901-1974. Enlightened space, Köln 2006; Estonian architectural rev. 2007(47/48; Sonderheft K.); M.Merrill, L.K. Drawing to find out. The Dominican Motherhouse and the patient search for archit., Z. 2010; id., L.K. on the thoughtful making of spaces, Z. 2010
Archive:
Philadelphia, Univ. of Pennsylvania: L.I.K. archives.
Onlinequellen:
Amer. Architects and Buildings database