Magritte, René (René-François-Ghislain), belg. Maler, Zeichner, Grafiker, Bildhauer, Fotograf, Filmemacher, Theoretiker, *21.11.1898 Lessines/Hennegau, †15.8.1967 Schaerbeek b. Brüssel, lebte in Brüssel, 1927-1930 in Le Perreux-sur-Marne (einem Vorort von Paris) und ab 1930 wieder in Brüssel.
Magritte, René
M. war der älteste von drei Brüdern. Sein Vater war Handelsvertreter aus einer seit Langem im Hennegau ansässigen Familie. Er begann im Alter von zwölf Jahren Mal- und Zeichenunterricht zu nehmen. Zu dieser Zeit beobachtete er während der Ferien in Soignies auf einem Friedhof einen Künstler, der zw. Haufen verrottenden Laubs und zerbrochenen Säulen arbeitete. Dieses Erlebnis berichtete er in "La Ligne di vie" (1938), einem selbstmythologisierenden Vortrag (gehalten in Antwerpen), der sich in einer R. ähnlicher Texte der Surrealisten Salvador Dalí und Max Ernst befindet. Er schrieb: "Die Erinnerung an diese verzauberte Begegnung führte zu einer Orientierung meiner Interessen, die wenig mit Vernunft zu tun hatte." Die zweite prägende Kindheitserfahrung war der Selbstmord seiner Mutter, die sich 1912 in der Sambre ertränkte. Nach M.s Erinnerung (gemäß der Veröffentlichung von Louis Scutenaire 1947) wurde ihre Leiche mit um den Kopf gewickeltem Nachthemd gefunden. Diese Entdeckung fand ihren Widerhall in frühen Gem., in denen die Köpfe verhüllt sind bzw. allgemeiner in M.s Themen teilweiser Nacktheit und teilweiser Verhüllung. M.s Ausb. und frühe Werke datieren in die Jahre 1916-25. Von 1916-18 studierte er an der ABA, wo er Arbeiten in der Art der Haager Schule schuf. Unter Gisbert Comaz entwarf er Plakate - eine frühe Verbindung zu Werbedarstellungen. Ab 1919 begann er damit, Porträts und Lschn in kubistischer Weise mit Facetten zu versehen. Spätestens 1920 wurde er mit dem ital. Futurismus bekannt, da er in diesem Jahr mit E. L. T. Mesens zusammentraf. Dies lässt sich auch anhand von wirbelnden Bewegungen in Gem. im Stil Giacomo Ballas und an Motiven wie einer Militärparade oder eines Bahnhofs belegen. Nach dem E. seines Militärdienstes von 1920-21 traf er wieder mit einem Studienkollegen von der Brüsseler Akad. zusammen, Victor Servranckx, dessen Einfluss auf ihn und seine Affinität für den Purismus Amedée Ozenfants, Le Corbusiers und Fernand Légers dazu beitrugen, ihn von mehreren der Vorkriegs-Avantgarden zu entfremden und sein Interesse für die puristische Ästhetik zu wecken, die sich in seinen späteren Arbeiten findet. 1922 schrieb er zusammen mit Servranckx den Aufsatz "L’Art pur: défense de l’esthétique". 1923 stellte er einige Gem. in der Gal. Georges Giroux in Brüssel aus, darunter Femmes (1922, Priv.-Slg), eine Komp. der Drei Grazien im puristischen Stil. A. 1925 gab M. zusammen mit Mesens eine einzige Ausg. der Dada-Zs. Œsophage heraus. Er stand jetzt in Brüssel mit einer Gruppe von Intellektuellen unter Ltg von Paul Nougé in Kontakt, zu der auch Marcel Lecomte, Camille Goemans und André Souris gehörten. Sie bildeten eine Gruppe belg. Surrealisten, in der M. der einzige Maler war. Mittlerweile hatte M. 1923 eine in Les Feuilles libres (Mai/Juni 1923) publizierte Reproduktion von "Liebeslied" von Giorgio di Chirico (1914, New York, MoMA) gesehen und eine kleine von Valori Plastici 1919 veröffentlichte Monogr. zu de Chirico erworben. Dies und seine Kenntnis des Werks von Max Ernst führten E. 1925 dazu, dass er seine letzten formellen Beschäftigungen mit dem Kubismus beendete und seine Vorliebe für realistisch gemalte Objekte in rätselhaften Komp. und seine Überzeugung von der "Vorherrschaft der Dichtung über die Malerei" entwickelte. Ein nahezu vom Kubismus befreiter liegender Akt, Baigneuse (1925, Charleroi, Mus. des BA), enthält eine unerklärliche und unlogisch beleuchtete Kugel, die auf sein zukünftiges Werk hindeutet. Nocturne (Houston, Menil Coll.), aus demselben Jahr, zeigte erstmals ein Repertoire von Motiven, die für M. bezeichnend werden sollten (der Bilboquet bzw. der Pfosten mit bekrönender Kugel, das Spinnwebenmuster auf dem Fußboden, eine Taube, ein geheimnisvolles Gem. sowie ein zurückgezogener Bühnenvorhang), kann als sein erstes Werk mit surrealistischem Inhalt betrachtet werden. Von 1926 bis zum E. des Jahrzehnts konnte sich M. dank Verträgen mit den Gal. Sélection und La Centaure in Brüssel und ihres Gründers, M.s lebenslangem Freund Gustave van Hecke, ausschl. der Malerei widmen. Van Hecke schrieb auch in der Zs. Sélection (März 1927) den ersten ernsthaften Artikel über M. M.s erste Einzelausstellung in der Gal. La Centaure im Jahr 1927 zeigte wiederum Motive, die sich in seinem späteren Werk zahlreich wiederholten: den Bilboquet, das Pferd mit Jockey und den Mann mit Bowler. In dieser Zeit entstanden auch die meisten von M.s Collagen, die fast alle Fragmente von Notenblättern der engl. Operette The Girls of Gottenburg von George Grossmith und L. E. Berman enthielten. Die Verwendung von zerschnittenem und eingeklebtem Papier half M. bei seinem Bestreben, eine persönliche Technik in der Darst. zu eliminieren. Gleichzeitig zeigte sich viel Bizarres in der Art von Ernst. Von nun an verzichtete M. bis fast zum E. seines Schaffens auf Collagen. Diese frühen Erfahrungen führen jedoch zu der späteren oxymoronischen Bezeichnung M.s als "Collagenmaler". Einige Gem. dieser Zeit weisen eine dunkle Stimmung von Bedrohung und Gewalt auf (beispielsweise Les Jours gigantesques, 1928, Düsseldorf, KS NRW), was der Freundschaft mit dem Dichter Nougé und dem fiktionalen Kinoschurken Fantômas geschuldet sein könnte, der bei den Pariser Surrealisten beliebt war. Letzterer wird im Allgemeinen als Inspiration für ein großes Gem. betrachtet, das wie kein anderes von M.s Werken einen narrativen Inhalt aufweist: L’Assassin menacé (1926-27, New York, MoMA). M. arbeitete 1927 bei zwei Prospekten mit Nougé zusammen, darunter einem Pelz-Kat. für Maison Samuel. M.s kennzeichnender Surrealismus war demnach bereits vor seiner Abreise mit seiner Frau Georgette (Heirat 1922) nach Le Perreux-sur-Marne, einem Vorort von Paris, im Sept. 1927 ausgebildet. In Paris stellte ihm sein Freund und Galerist Goemans die von ihm vertretenen Surrealisten vor (Jean Arp, Ernst, Joan Miró), und er erneuerte seine früheren Bekanntschaften mit André Breton und Louis Aragon. Seine Fotomontage von 16 Surrealisten mit geschlossenen Augen - einschl. ihm selbst - erschien 1929 (Nr. 12) in La Révolution Surréaliste. Dies war die fruchtbarste Zeit seines Lebens. Er schuf ca. 175 Werke in weniger als drei Jahren, Werke, die nahezu jedes Thema und Format umfassten, mit denen er sich in den folgenden Jahrzehnten beschäftigen sollte. Le Masque vide (1928, Cardiff, NM of Wales) ist ein erstaunliches Bild in dieser Zeit (eigentlich eher sechs Bilder, zusammengefasst in asymmetrischen Rahmen), das die gewohnte Vorstellung eines Bildes in einem rechteckigen Rahmen herausforderte. Rahmen innerhalb von Rahmen, die nicht zusammengehörende Darstellungen vereinten, wurden von Ernst erst in den 1940er Jahren verwendet, während geformte Lw. ein beliebtes Motiv der Avantgarde der 1960er Jahre waren. Beeinflusst durch Arp fanden namenlose biomorphe Formen Einzug in sein Werk, und 1927 entdeckte er den Vorteil gemalter Metamorphosen als Alternative zu der bloßen Gegenüberstellung widersinniger Objekte. Im selben Jahr führte er mit einem seiner meistgeschätzten Gem. La Clef des songes (München, PM) Kalligrafie in sein Werk ein (wie bereits Miró in seinen peintures-poésies von 1925-27). In diesem werden vier Objekte mit ihrem Namen bezeichnet, von denen nur einer mit dem Dargestellten übereinstimmt. Damit begann eine Kampagne zur Aufbrechung der Verknüpfung zw. Namen und Objekten und zw. Wahrnehmung und Realität, die in Le Trahison des images (1929, Los Angeles, LACMA) gipfelte, worin der Satz "Ceci n’est pas une pipe" unter dem Bild einer Pfeife erschien. 1929 hielten sich das Ehepaar M. sowie Paul und Gala Éluard in Cadaqués bei Dalí auf, dessen Gem. "L’Énigme du desir" (München, PM, 1929) von M. beeinflusst war. Trotz dieser Affinitäten und Bekanntschaften lehnte M. surrealistischen politischen Aktivismus ab, und seine künstlerische Identität kann teilweise als das Gegenteil von dem betrachtet werden, was er am Surrealismus und anderen zeitgen. avantgardistischen Strömungen mied: Spiritualismus, primitive Kunst, Expressionismus, okkulte Erfahrungen, Religion und das Übernatürliche, Narration, Abstraktion, Psychoanalyse und Traum, Automatismus und andere surrealistische technische Verfahren wie Frottage oder Abziehbilder. 1930 schuf er drei 'toiles découpées' - einzelne, auf mehrere Lw. gemalte Werke - darunter L’Évidence éternelle (Houston, Menil Coll.), ein stehender weiblicher Akt, zusammengesetzt aus Körperteilen. M. zählte diese zu seinen bis dahin radikalsten Gemälden. Nach persönlichen Differenzen mit Breton und der Schließung der Gal. Goemans kehrte M. 1930 nach Brüssel zurück. M. war genötigt, zur Bestreitung seines Lebensunterhalts unter dem Firmennamen Studio Dongo als Werbegrafiker zu arbeiten. Er fand als Künstler Unterstützung in dem Händler und Sammler Mesens, der zahlr. von M.s Werken ankaufte und 1931 eine Ausst. in der Salle Giso in Brüssel veranstaltete. Trotz dieser harten Jahre verloren M.s Gem. die psychologische Anspannung, die sich häufig in seinem früheren Werk fand, und er betonte in seinen Gem. die Banalität der Objekte und ihrer Anordnung. Dies drückte er in seiner Vorstellung von "Problemen" (einem Angriff auf das herkömmliche Verständnis der Dinge) und "Verwandtschaften" aus. Ersteres bedeutete für ihn das Entwirren der Bedeutung von, beispielsweise, "die Tür", indem er ein klaffendes Loch mit Dunkelheit dahinter in ihre Mitte malte. Auf diese Weise verdeutlicht er die Funktion der Tür als Barriere, die die Angst vor dem Wissen, was hinter ihr liegt, hervorruft (La Réponse imprévue, 1932, Brüssel, MRBAB). Ein weiteres, auf ein "Problem" hinweisendes Motiv ist das von Schuhen: ein Problem, das er in Le Modèle rouge (1935, Stockholm, Mod. Mus.), in dem sich leere Stiefel in Füße verwandeln, als "gelöst" betrachtet. Weitere "Probleme" für M. waren Feuer, Licht, das Haus, Regen, das Meer und die Sonne. In einem seiner glücklichsten und geheimnisvollsten Gem., La Condition humaine I (1933, Washington/D.C., NG of Art), beschäftigt er sich mit "dem Fenster". Es zeigt ein Gem. auf einer Staffelei vor einem Fenster, das genau wiedergibt, was der Betrachter in der Lsch. hinter dem Gem. vermutet (jedoch nicht sehen kann). Auf diese Weise kommen verwirrende Fragen über die Darst. in der Malerei sowie die Natur von Fenstern auf. Unter "Verwandtschaften" verstand M. die Eliminierung des Zufälligen und Beliebigen in seinen Gemälden. Ein Beispiel dafür ist ein Vogelkäfig, in dem der Vogel durch ein übergroßes Ei ersetzt wurde (Les Affinités electifs, 1932, Priv.-Slg), da das Ei mit einem Vogel "verwandt" ist. In Le Viol (1934, Houston, Menil Coll.) ist das Gesicht einer Frau durch einen weiblichen Torso auf einem unnatürlich langen Hals ersetzt. Auf diese Weise erfüllte M. Bretons Forderung aus seinem ersten Manifest (1924), dass den Surrealismus "das unvoreingenommene Spiel der Gedanken" ausmache, und dass er die "wichtigsten Probleme des Lebens zu lösen" habe. Ein weiteres wichtiges Thema des Surrealismus war die Entfremdung des Objekts und seine dichterische Wiederherstellung, ausgedrückt durch Bretons Lieblingszitat aus Les Chants du Maldoror (1869) des Comte du Lautréamont: "die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Operationstisch." 1948 illustrierte M. eine Ausg. von Les Chants du Maldoror mit 77 Radierungen. Ab 1933 korrespondierte M. mit Breton zu diesen Themen, was zu einer Wiederannäherung führte. 1942 schrieb Breton im Kat. zu Peggy Guggenheims Slg "Art of This Century", dass M. der "Einzige sei, der ... Malerei im Geiste von 'Objektsitzungen' [betreibe] und das visuelle Bild von diesem Standpunkt aus auf die Probe stelle und dabei seine Schwäche betone ...". M.s Praxis, Kopien seiner eigenen Werke in unterschiedlichen Größen und mit Variationen anzufertigen, begann etwa in der Zeit, als er 1935 15 solcher Werke nach New York zu einer Ausst. in der Julien Levy Gall. sandte. Dies entsprach nicht der "Serienmalerei", wie sie Monet in den 1880er-Jahren entwickelt hatte, noch diente es der versuchsweisen Wiederholung. Diese Praxis lässt sich vielmehr mit M.s Desinteresse an Einzigartigkeit erklären, seiner Ablehnung einer individuellen Schöpfung des Künstlers im Sinne eines persönlichen Stils sowie seinem Bekenntnis zur Vermarktung von Kunst, zwei Jahrzehnte, bevor dies zu einem allg. ökonomischen Trend im Westen der Nachkriegszeit wurde. 1937 erhielt M. seinen ersten großen Auftrag, eine Gruppe von drei großen Gem. (Le Modéle rouge, Stockholm, Mod. Mus., Au Seuil de la liberté, La Jeunesse illustrée, beide Rotterdam, BvB) für den Ballsaal des Londoner Hauses von Edward James, einem Gönner von Dalí. Bei jedem von ihnen handelte es sich um eine Variation eines früheren Gemäldes. Im selben Jahr schuf M. mit Le Principe du plaisir (Priv.-Slg) und La Reproduction interdite (Rotterdam, BvB) "Porträts" von James, in denen die Spiegelung des sich selbst im Spiegel betrachtenden Subjekts mit der Ansicht von hinten identisch ist, die sich dem Betrachter bietet. Dieses "Problem" des Spiegels steht möglicherweise mit dem Umstand im Zusammenhang, dass M.s Gem. im Ballsaal von James hinter Einwegspiegeln platziert waren. Zu Beginn des Jahres 1943, nach einer Periode der Unsicherheit, wie auf den 2. WK zu reagieren sei, änderte sich M.s Malerei abrupt. Er bediente sich eines impressionistischen Stils mit einer leuchtenden Farbpalette und deutlichen Pinselstrichen, den er seinen "Sonnenstil" nannte. Diese Malweise behielt er während der dt. Besetzung von Belgien als Antidot und fröhliche Gegenoffensive gegen die Grausamkeit und Unterdrückung des Krieges bei. Sonnige Lschn und Akte erinnern an die späten Werke von Renoir, beispielsweise Le Traîté de la lumière (1943, Priv.-Slg), eine Kopie von Renoirs "Badenden" (um 1918-19, Paris, Orsay), worin die einzelnen Körperteile in unterschiedlichen Farbtönen gemalt sind. Obwohl dieser "Sonnenstil" einige Bewunderer fand, wurde er von M. aufgrund seiner allgemeinen Unpopularität 1947 aufgegeben. Es folgte ein weiterer abweichender Stil von kurzer Dauer, M.s Fauve- oder Vache-Malerei. Diese rohen, lebhaft verschmierten Gem. machen den Eindruck, als wollten sie sowohl die Kritiker als auch das Publikum seiner ersten Einzel-Ausst. in Paris in der Gal. du Faubourg 1948 verspotten. Tatsächlich findet sich M. auf diese Weise auf gleicher Höhe mit zeitgen. Arbeiten von Jean Dubuffet und den CoBrA-Malern wieder. Während dieser Zeit griff M. wieder seine ursprünglichen fantastischen Arbeiten mit der Ikonografie und dem deskriptiven Stil seiner Vorkriegsgemälde auf. 1951 erhielt M. seinen ersten Auftrag für ein Wand-Gem., eine Decke in einem kleinen Brüsseler Theater. 1953 entwarf er für das Casino Communal von Knokke-le-Zoute in Belgien ein 71 Meter langes Panorama, das aus Motiven seiner früheren Gem. bestand, einschl. am Himmel erscheinender archit. Blöcke. Es folgten Aufträge in Charleroi (Pal. des Beaux-Arts, 1956) und erneut in Brüssel (Pal. des Congrés, 1961). Im Frühjahr 1947 richtete der New Yorker Händler Alexander Iolas eine Ausst. für M. aus. Iolas sollte für den Rest seines Lebens M.s wichtigster Händler werden, der großen Anteil an seinem internat. Ruhm hatte. Nachdem er die impressionistische und die Vache-Periode hinter sich gelassen hatte, befand sich M. in den 1950er und frühen 1960er Jahren auf dem Höhepunkt seines Schaffens. Er schuf zahlr. poetische und dennoch provozierende Tafeln in seinem seit den späten 1920er Jahren praktizierten Stil. Seine mimetischen Fähigkeiten befanden sich auf höchstem Niveau. Er schuf Werke von magischem Realismus wie das eines in ein leeres Zimmer gequetschten riesigen grünen Apfels (La Chambre d’écoute, 1952, Houston, Menil Coll.) oder eine Ansammlung von Toilettenartikeln in Les Valeurs personelles (1952, San Francisco, MMA) oder die brechenden Wellen in dem mon. Le Château des Pyrénées (1959, Jerusalem, Israel Mus.). Zahlr. Gem. stellen Variationen seines Meisterwerks von 1933, La Condition humaine I sowie von La Clef des champs (1936, Madrid, Mus. Thyssen-Bornemisza) dar, in dem die Splitter eines Fensters noch immer die hinter dem Fenster sichtbare Lsch. wiedergeben: Fenster öffnen sich gleichzeitig in die Dunkelheit, das blaue Meer und den blauen Himmel (La Lunette d’approche, 1963, Houston, Menil Coll.), zerbrochene Fenster zeigen eine Gebirgs-Lsch. (Le Domaine d’Arnheim, 1949, Priv.-Slg), die scheinbare Existenz von zwei konischen Formen auf einer Lw. vor einem Fenster in Les Promenades d’Euclide (1955, Minneapolis/Minn., Inst. of Arts). M. beschäftigte sich mit der Darst. von Eruptivgestein, 1950 schuf er das erste Gem. einer Versteinerung. Die Versteinerung erstreckte sich auf ganze Bilder, wobei sich Menschen, Äpfel, Löwen, Stillleben und selbst eine kleine Kerze und ein Blitz in Stein verwandelten. Der Felsblock, manchmal riesig am Himmel schwebend (Le Château des Pyrénées), unglaubwürdig auf einer Straße liegend (L’Empire des lumières, 1953-54, Venedig, Fond. Peggy Guggenheim) oder im Inneren eines Hauses mit Meerblick (Le Monde invisible, 1954, Houston, Menil Coll.) besitzt die poetische Kraft, die von M. gesucht wurde. Dieses Motiv sowie der grüne Apfel, das fliegende Baguette und der Mann mit Bowler wurden quasi zu einem Markenzeichen der Werke M.s, wobei Letzterer in Golconde (1953, ebd.) als schwebende Miniaturfigur zu Dutzenden wiederholt wurde. 1956 begann M. mit der Herstellung von Kurzfilmen, in denen er selbst, seine Frau, Scutenaire und andere Freunde auftraten. Seine frühesten cinematischen Erfahrungen reichen bis 1932 zurück, als er zwei Filme mit Nougé drehte. Während sich M. weiterhin mit "Objektsitzungen" beschäftigte (1958 vereinte er in Les Vacances de Hegel, Priv.-Slg, einen Regenschirm und ein Trinkglas), erstreckten sich seine Bildthemen auch auf Metamorphose und Daseinszustände, wofür die Versteinerung exemplarisch ist, aber auch Herausforderung der Schwerkraft, Verbergung und Offenlegung, Verflüssigung (Le Séducteur, 1951, Priv.-Slg), Erstarrung (blaue Himmel in Blöcken), räumliche Unklarheit und widersprüchliche Größenverhältnisse. Von 1949 bis in die M. der 60er Jahre experimentierte er mit zahlr. Variationen von L’Empire des lumières (17 Öl-Gem. und 10 Arbeiten auf Papier), in denen Nacht und Tag gleichzeitig auftreten. Der trügerische Realismus dieser Ser. kontrastiert mit einer von M.s befremdlicheren Schöpfungen, der Platzierung einer Mörserschale auf seinen Bilboquets, sodass eine Travestie der Figurinen de Chiricos entsteht (beispielsweise Le Colloque sentimental, 1947, Sakura/Chiba, Memorial Mus. of Art). Als Ursprung derartiger Kompositionen wurde eine Zchng von Imkern von Pieter Bruegel d.Ä. genannt (Berlin, Kpst.-Kab., 1568), womit auf die kulturelle Herkunft M.s aus den Niederlanden verwiesen ist, wo Hieronymus Bosch, die Brueghels und Pieter Huys bereits hybride Monster der Vorstellungskraft geschaffen hatten. M.s Bilderfindungen haben viel mit Sprache zu tun: Phil. der Semantik, Metapher und Metonymie (beispielsweise das Blatt, das für den Baum steht). Auch wenn seine Bilder das Narrative vermeiden, wovon L’Assassin menacé (New York, MoMA) die wichtigste Ausnahme darstellt, ist es ein latentes Narrativ, der Eindruck eines kürzlichen oder bevorstehenden Dramas, einer unerzählten Anekdote, die zu der hintergründigen Spannung in vielen von M.s faszinierendsten Bildern beitragen: das unerklärliche Verschwinden eines die Zeitung lesenden Mannes (L’Homme au journal, 1928, London, Tate Modern), die unheilvolle Aura einer leeren Vorstadtstraße (L’Empire des lumières, 1953-54), eine blutende Wunde auf einem abgetrennten Gipskopf (La Mémoire, 1948, Brüssel, Mus. d’Ixelles), eine Armee von Bowler-tragenden Männern vor einem Fenster (Le Mois des vendages, 1959, Priv.-Slg), vorbeifliegende Baguettes (La Légende dorée, 1958, Priv.-Slg) oder ein bluttriefendes Gewehr (Le Survivant, 1950, Priv.-Slg). Eine ähnliche verdrehte Spannung wird durch die Titel seiner Gem. hervorgerufen, bei denen es sich nicht um Schlüssel zur Interpretation, sondern eher um poetische Zusätze der Bilder handelt. Einige wurden von seinen literarischen Freunden Scutenaire, Nougé und Breton vorgeschlagen. Im Allgemeinen stammen sie aus unterschiedlichen lit. Quellen wie Edgar Allen Poe, Lewis Carroll, Baudelaire, Shakespeare, der Bibel, John Buchan und vielen anderen. Verwandte Gem. können unterschiedliche Titel besitzen: Le Bal masqué (1958), das einen Menhir und einen Sonnenuntergang zeigt, ist eine Variante eines Gem. von 1955 mit dem Titel Les Origines de langage (Houston, Menil Coll). Auf die Frage, was der "Hintergrund" seiner Gem. sei, antworte M. einmal: "eine Wand". M. experimentierte immer wieder mit Skulptur. Zwei bemalte Gipsmodelle wurden 1933 im Pal. des Beaux-Arts in Brüssel ausgestellt. Später stellte er ein kleines Gem. eines Brie unter eine Glasglocke (Ceci est un morceau de fromage, 1936-37). In den 50er und frühen 60er Jahren malte er zahlr. Weinflaschen. 1967 wählte M. Motive aus acht seiner Gem. für eine Ausführung in Bronze aus: La Race blanche (1937); Le Thérapeute (1937); Les Travaux d’Alexandre (1950); Perspective: Davids ‘Madame Récamier’ (1951); La Joconde (1960); La Folie des grandeurs (1961); Les Graces naturelles (1963); Le Puits de verité (1963, alle zuletzt gen. Priv.-Slg). Diese wurden postum in einer Ser. von fünf Stück sowie einer Künstler-Ed. gegossen. M. starb während einer großen Retr. seines Werks im Boijmans-van Beuningen Mus. Rotterdam an Bauchspeicheldrüsenkrebs und wurde auf dem Friedhof von Schaerbeek beerdigt.
Les Mots et les images. La Révolution Surréaliste, P. 1929; La Ligne de vie, in: G.Ollinger-Zinque/F.Leen (Ed.), Ghent/Brüssel 1998; A.Blavier (Ed.), Écrits complets, P. 2001.
Einzelausstellungen:
Brüssel: 1927 Gal. Le Centaure; 1928 Gal. L’Époque; 1931 Salle Giso; 1933, '36, '39, '54 Pal. des Beaux-Arts; 1941 Gal. Dietrich; 1943, '47 Gal. Lou Cosyn; 1944, '46, '48 Gal. Dietrich; 1951 Gal. Dietrich et Lou Cosyn; 1953 Gal. La Sirène; 1959 Mus. d’Ixelles; 1972 Banque de Bruxelles; 1977-78 Pal. des BA; 1982 MRBAB / New York: 1936, '38 Julien Levy Gall.; 1947, '48, '51 Hugo Gall.; 1953, '57, '58, '59, '62, '65 Iolas Gall.; 1953 Sidney Janis Gall.; 1961 Albert Landry Gall.; 1966, 2013-14 MoMA: Wander-Ausst. (K) / 1936 The Hague, Huize Esher Surrey (Falt-Bl.) / London: 1938 London Gall.; 1953 Lefevre Gall. (K); 1961 Grosvenor Gall. (K); Obelisk Gall. (K); 1964 Hanover Gall. (K); 1966 Zwemmer Gall. (K); 1969 Tate (K); 1992 Hayward Gall. (Wander-Ausst., K) / 1947 Verviers, Soc. R. des BA (Falt-Bl.) / Paris: 1948 Gal. du Faubourg (Falt-Bl.); 1964 (K), '66 (K) Gal. Alexander Iolas (K); 1966 Gal. Rive Droite (K); 1984-85 Centre Wallonie-Bruxelles (K); 1955-56, '58 Gal. Cahiers d’Art; 2003 Jeu de Paume (K); 2006 Fond. Dina Vierny - Mus. Maillol (K) / 1948 Beverly Hills, Copley Gall. (K) / Rom: 1953 Gall. dell’Obelisco; 1982 GNAM (K); 2001 Complesso Vittoriano (K) / 1953 Lüttich, Gal. du Carré; La Louvière, Maison des Loisirs / 1956 Charleroi, Salle de la Bourse (K) / 1960 Lüttich, MBA (K) / 1960-61 Dallas, MCA (K) / Turin: 1962 Gall. Galatea (K); 1965 Gall. Notizie (K) / 1962 Mailand, Gall. Falanga; Knokke, Cassino Communal (K); Minneapolis, Walker AC (K) / 1964 Chicago, Renaiss. Soc. at the Univ. of Chicago; Little Rock, Arkansas AC (K) / 1967 Rotterdam, BvB (K); Stockholm, Mod. Mus. (K) / 1969 Hannover, Kestner-Ges. (K) / 1971 (Wander-Ausst., K), '88 (K) Tokio, NMMA / 1976-77 Houston, Inst. for the Arts, Rice Univ. (K) / 1977 Köln, Baukunst-Gal. (K); Bordeaux, Centre d’Arts Plastiques Contemp. (K) / 1979 Southampton/N.Y., Parrish AM (K) / 1982 Hamburg, KV (K); Tokio, Gal. des arts, Shibuya (Wander-Ausst., K) / 1983-84 Humlebæk, Louisiana (K) / 1984 Høvikodden, Kunstsentret (K) / 1986 Ferrara, Gall. Civ. d'Arte Mod. (K) / 1987 Lausanne, Fond. de l’Hermitage (K) / 1987-88 München, KKH Hypo-Kulturstiftung (K) / 1988 Yamaguchi, Prefectural Mus. of Art (K) / 1990 Ostende, Provincial Mus. voor Mod. Kunst (K) / 1991 Verona, Pal. Forti (K) / 1992 Marseilles, Mus. Cantini (K) / 1996-97 Düsseldorf, KS NRW (K) / 1999-2000 Humlebæk, Louisiana (Wander-Ausst., K) / 2011-12 Liverpool, Tate; Wien, Albertina (K) / 2018 San Francisco/Cal., MMA (K). -
Gruppenausstellungen:
1954 Venedig: Bienn. / 1957 São Paulo: Bien. / 2021-22 Humlebæk, Louisiana MoA und Mannheim, KH: Mutter! (K) / 2024 Dortmund, Dt. Fußball-Mus.: In Motion - Kunst und Fußball (K).
Thieme-Becker, Vollmer und AKL:
Vo3, 1956
Weitere Lexika:
Bauer, GEM V, 1977; Krichbaum, 1981; ContempArtists, 1983; Auer, 1985; C.Naylor (Ed.), Contemp. photographers, Chicago/Lo. 21988; EAPD, 1989; DPB II, 1995; DA XX, 1996; R.Kostelanetz, A dict. of the Avant-Gardes, N. Y. 22000; C.Engelen/M.Marx, Beeldhouwkunst in België, II, Br. 2002; Sanchez, Tuileries II, 2007
Gedruckte Nachweise:
S.Gablik, M., N.Y. 1970; D.Sylvester (Ed.) u.a., R.M. Cat. Raisonné, vols. 1-5, Ant./Lo. 1992-1997 (Bibliogr. Bd V); M.Draguet u.a., M., Br. 2009; S.Whitfield (Ed.), R.M. Cat. Raisonné, vol. 6, Br. 2012; A.Umland (Ed.), M. The Mystery of the Ordinary 1926-1938, N.Y. 2013; H.-D. Fronz, Kunstforum internat. 279:2022(Jan.-Febr.)286-288