Tinguely, Jean, schweiz. Bildhauer, Objekt- und Aktionskünstler, Zeichner, *22.5.1925 Fribourg, †30.8.1991 Bern. Ab Juli 1925 in Basel, ab 1953 in Paris, ab 1964 in Soisy-sur-École ansässig.
Tinguely, Jean
1941-43 Ausb. zum Dekorateur bei Theo Wagner im Warenhaus Globus, Basel. Stud. ebd.: 1941-44 Gewerbeschule. 1944-45 Militärdienst. 1953 Heirat mit Eva Aeppli (gemeinsame Tochter ist die Malerin Miriam T., *27.1.1950 Basel), 1960 Trennung, 13.7.1971 Heirat mit Niki de Saint Phalle. Ausz.: 1976 Lehmbruck-Preis, Duisburg; 1980 Kunstpreis und 1985 Ehrenspalenbärglemer-Preis, beide Stadt Basel; Ehrenbürger von Fribourg; 1988 Jacob-Burckhardt-Preis, Prix de l'État de Berne. - 1949-51 arbeitete T. als freischaffender Schaufensterdekorateur in Basel. Seine kreativen und ungewöhnlichen Arrangements in den Auslagen und Fenstern der Warenhäuser zogen die Blicke auf sich. Sie waren durch eine klare Formensprache und definierte Raumachsen gekennzeichnet und enthielten bereits kinetische Objekte und aus Draht gebogene Figuren, die in narrativen und witzigen, mitunter ironischen Komplexen präsentiert wurden. E. 1952 zog T. zus. mit Aeppli nach Paris. Dort befasste er sich mit abstrakter Kunst und erweiterte seine kunsthist. Kenntnisse. 1953 arbeitete er an Daniel Spoerris Farbenballett mit und entwickelte dafür das Dekor, das bei der Generalprobe allerdings zusammenstürzte. Durch diese Panne wurde T. zur Arbeit mit Motoren inspiriert, mit denen er fortan seine Konstruktionen in Bewegung setzte. Seine letzte Schaufensterdekoration fertigte er im März 1954 für den Basler Optiker Ramstein, danach widmete er sich beweglichen Reliefs, Automaten und kinetischen, aus Draht gebogenen Skulpturen, 1954 entstand der erste Moulin à prière (Moulin à Prière I, New York, Slg McCrory Corporation). 1955 bezog T. ein Atelier im Impasse Ronsin im 15. Arrondissement. Er verfeinerte seine immer komplexeren Maschinenskulpturen. Bevorzugt verwendete er Spanplatten, Draht, Blech und 110-Volt-Elektromotoren, sein Arbeitsgerät war der Lötkolben. Zw. 1954 und 1959 entwickelte er Reliefs, die mittels eines mal sichtbaren, mal verdeckten mechanischen Antriebs in Bewegung gesetzt wurden. Vor schwarzem Hintergrund arrangierte er weiße geometrische Formen in sich niemals wiederholenden Konstellationen, sodass fortwährend ein neues, abstraktes Bild entstand. Die Titel der Arbeiten wie Méta-Malevich (1954, Basel, Mus. Tinguely) verweisen auf T.s Inspirationsquellen: die Pioniere der ungegenständlichen Kunst, darunter Wassily Kandinsky, Kazimir Malevič und Auguste Herbin oder Künstlergruppierungen wie de Stijl und das Bauhaus. Die frühe geometrische Abstraktion faszinierte ihn, nicht das gestisch Expressive der bereits etablierten tachistischen oder informellen Kunst. Neben Reliefs entstanden dreidimensionale durchlässige Drahtskulpturen mit verschiedenfarbig bemalten Eisenblechen (Méta-mécanique, 1955, Mus. Tinguely). Ab 1955 konstruierte T. Zeichenmaschinen, die sog. Métamatics (Métamatic No. 1, 1959, Paris, MNAM), in die der Ausstellungsbesucher ein Blatt Papier und einen Stift seiner Wahl einführte und die er mit einer Kurbel oder per Knopfdruck in Gang setzte. Später war die Aktivierung auch per Münzeinwurf möglich. In Bewegung versetzt, glitt der Stift über das Papier, und es entstand eine abstrakte, gestisch-expressive Zchng, die der Besucher mitnehmen konnte. So involvierte T. Letzteren in den Werkprozess und machte ihn zum Mitgestalter seiner Kunst. Mit seinen Zeichenmaschinen übertrug er zudem die gestische Expressivität sowie den künstlerischen Akt an eine Maschine und formulierte so einen ironischen Kommentar zur künstlerischen Praxis der Tachisten und Informellen, zu ihrem expressiven, durch das Unterbewusste geleiteten Mal- und Zeichenakt. Die Bewegung des Stiftes der Malmaschinen wurde im Laufe der Zeit ruckartiger, und damit nahmen auch die Zchngn einen expressiveren Char. an. Auch traten die einzelnen Bewegungsabläufe der Apparate verstärkt in den Vordergrund: Der Stift kritzelte wilder, das Zeichenbrett rotierte stärker, das Papier rollte schneller ab. Ab 1959 konstruierte T. seine Plastiken mit einem Gasschweißapparat, der es ihm ermöglichte, massivere Metallelemente zu verarbeiten und damit auch größere Werke zu bauen. Auf die Reliefs und filigranen Objekte folgten mobile Plastiken in menschlicher Größe. So nahmen auch die Zeichenmaschinen zunehmend größere Formate an wie etwa die Méta-Matic No. 17 (1959, Stockholm, Mod. Mus.). Diese 3,30 m hohe Skulptur bewegte sich während des Zeichnens durch den Raum und agierte wie ein Performer auf einer Bühne. Auch der Cyclograveur (1959, 180 x 400 cm, Schweiz, Privatsammlung) übertraf die Größe der kleineren Zeichenmaschinen: Es handelt sich dabei um eine Maschine aus geschweißtem Altmetall und Fahrradteilen. Der Rezipient nahm darauf Platz und setzte per Fahrradpedale einen Mechanismus in Gang, der eine Zchng entstehen ließ. Nicht nur die Maschine, sondern auch der Ausstellungsbesucher wurde nun zu einem Darsteller, der Ausstellungsraum zum Schauplatz einer Aufführung. T. integrierte seine Zeichenmaschinen auch in Happenings: 1959 hielt er im Inst. of Contemp. Arts (ICA) in London den Vortrag Art, Machines and Motion, begleitet von der Präsentation mehrerer kleiner Zeichenmaschinen und einem Radrennen, bei dem zwei Rennfahrer auf der mit Pedalen ausgestatteten Zeichenmaschine Metamatic No. 12 gegeneinander antraten. Während sich die Sportler auf der Maschine betätigten, wurde eine mehrere hundert Meter lange Papierbahn abgerollt, die in den Zuschauerraum hinüberglitt und das Publikum bedeckte. So wurde die Grenze zw. Bühne und Zuschauerraum überschritten, und beide Bereiche wurden miteinander verknüpft; ein Merkmal, das weitere Aufführungen T.s kennzeichnete. Das Happening im ICA bildete den Abschluss der Métamatic-Ser. und spiegelt zugleich T.s Affinität zu aktionistischen Ausdrucksformen wider, wie sie bereits im Dadaismus erprobt wurden und sich E. der 1950er Jahre im Happening und in der Performancekunst etablierten. Wiederholt engagierte er sich im Rahmen diverser Aufführungssituationen, ließ seine Skulpturen als Akteure auf der Bühne auftreten, agierte selbst als Darsteller oder entwarf Kostüme und Bühnenbilder. Ebenfalls 1959 formulierte T. das Manifest für Statik, das er auf unzähligen Zetteln gedruckt aus einem Flugzeug über Düsseldorf abwarf. Darin formulierte er seine Grundüberzeugungen: "Es bewegt sich alles, Stillstand gibt es nicht. Lasst Euch nicht von überlebten Zeitbegriffen beherrschen". Im selben Jahr lernte er eines seiner prägendsten Vorbilder, Marcel Duchamp, kennen, sowie Robert Rauschenberg, Jasper Johns und John Cage, mit denen er mehrmals zusammenarbeitete. 1960 realisierte T. im Skulpturengarten des MoMA in New York die Zerstörungsaktion Homage to New York. Unterstützt von Billy Klüver und Rauschenberg konstruierte er eine Assemblage aus einem Klavier, 80 Fahrradrädern, Motoren, einem Gokart, Uhren, einer Métamatic, Blechdosen, Holz- und Gummirädern sowie zahlr. weiteren Fundstücken. Er verwendete nun ein elektrisches Schweißgerät, mit dem er Schrottelemente miteinander verband. Die Assemblage versah er zudem mit Sprengstoff, Schwarzpulver und Feuerwerk. Vor Publikum wurden die Sprengkörper entzündet, und die in Gang gesetzte Maschine zerstörte sich innerhalb von ca. 23 Minuten selbst. Mit dieser Aktion unterlief T. endgültig den Ewigkeitsanspruch der Kunst. Statt abgeschlossener Werke schuf er plastische Ereignisse, in denen sich Objekt und Aktion miteinander verbanden und sich die Materialität der mechanischen Konstruktion in permanenter Wandlung befand. Nach seiner Rückkehr aus den USA schuf er "beständigere" Alteisenplastiken und immer monumentalere, zuweilen begehbare Skulpturen. Im Okt. 1960 wurde er Mitgl. (bis 1970) der vom Kunstkritiker Pierre Restany initiierten Künstlergruppe Nouv. Réalistes neben Yves Klein, Arman, Raymond Hains, François Dufrêne, Jacques Villeglé, Martial Raysse, Spoerri, Mimmo Rotella und César, später auch De Saint-Phalle, Gérard Deschamps und Christo. Das 1.Manifest der Gruppe hatte Restany bereits im April 1960 in Mailand veröffentlicht. Diesen Künstlern war lt. Letzterem gemeinsam, dass sie "Fragm. der Wirklichkeit" (Meyer, in: Bischofberger, 1982) in ihre Arbeiten integrierten und damit Kunst und Leben miteinander verbanden, etwa T. mit seinen Objets Trouvés, dem Alteisen und der Bewegung als Wirklichkeit konstituierende Elemente. Die politischen Umwälzungen in Zentralafrika, insbes. die Ereignisse um den Stamm der Bantu oder Baluba, die sich 1960 für die Unabhängigkeit Kongos engagierten, regten T. 1961 zu der Baluba-Gruppe an. Sie umfasst filigrane wackelnde Objekte mit bunten Stofffetzen und Federn, deren hüpfende und hektische Bewegungen Vitalität versprühen und an das Motiv des Tanzes anknüpfen (Baluba No. 1, 1961, Basel, KM). Mit diesem Motiv setzte sich T. auch in weiteren Arbeiten auseinander, v.a. in mehrteiligen Arrangements wie dem Ballet des pauvres (1961, Basel, KM). Ab 1960 entwarf T. auch Wassermaschinen (Fontaine No. 1, 1960, Schweiz, Privatsammlung), die wie klassische Brunnenskulpturen im Freien platziert wurden, doch verharrten sie nicht in der Bewegungslosigkeit, sondern spritzten das durch Rohre und Schläuche gepumpte Wasser wild umher. Die Arbeit mit Wasser nahm er Jahre später erneut auf und konzipierte vielteilige, zu Choreografien zusammengesetzte Brunnenskulpturen für Basel (Fasnachtsbrunnen, 1977) und Paris (Fontaine Igor Stravinsky, 1983, zus. mit De Saint-Phalle, Bes. der Commune de Paris). Weiterhin betätigte sich T. auf der Bühne: Am 20.6.1961 beteiligte er sich zus. mit Rauschenberg, David Tudor, De Saint Phalle und Johns an der Aufführung Variations II im Theater der US-amer. Botschaft in Paris. Er ließ die Maschine Stripper über die Bühne rollen, die dabei auseinanderfiel, sie vollzog einen "Striptease". Im selben Jahr bereitete er seine zweite große Zerstörungsaktion vor: Für die Ausstellungseröffnung am 22.9.1961 im Louisiana Mus. in Humlebæk entwickelte er die Selbstzerstörungsmaschine Étude pour une fin du monde No. 1, die nach einigen Minuten in sich zusammenfiel. 1962 inszenierte er zus. mit De Saint Phalle in der Wüste Nevadas als Forts. die Study for an End of the World No. 2. Die sich wieder selbst zerstörende Konstruktion bestand nicht aus Schrott mit deutlichen Gebrauchsspuren, sondern aus kaum benutzten Alltagsgegenständen, die allerdings bereits auf den Müllhalden von Las Vegas gelandet waren, wo sie T. eingesammelt hatte. Die Aktion wurde von der NBC gefilmt und live im Fernsehen übertragen, sodass ein breites Publikum diese zumindest visuell verfolgte. Im Mai 1962 nahm T. an der Aufführung des Theaterstücks The Construction of Boston (Regie: Merce Cunningham) im Maidman Playhouse in New York teil. Diesmal agierte er als Schauspieler und baute zus. mit Henry Geldzahler auf der Bühne eine Backsteinmauer, die dem Publikum nach und nach die Sicht auf das Geschehen versperrte. Seiner Vorliebe für künstlerische Gemeinschaftsprojekte entsprechend, organisierte T. zus. mit fünf weiteren Künstlern 1962 im Sted. Mus. in Amsterdam die Ausst. Dylaby, für die jeder von ihnen einen Raum gestaltete. Der Besucher durchschritt die Räume und befand sich dadurch inmitten der Kunst, die erst durch die Teiln. des Rezipienten Vollständigkeit erlangte. Zudem widmete sich T. ab 1962 einer neuen Werkreihe, den Radioskulpturen, bei denen es sich um kleinformatige Objekte mit Radioempfängern handelt. Der eingebaute Motor verändert die Frequenz und Tonlage der Empfänger, sodass das Gerät kakophonischen Lärm von sich gibt (Radio-Dylaby, 1962, Amsterdam, Sted. Mus.). Nach einer Japanreise 1963 begann T. seine Maschinenskulpturen sorgfältiger und exakter zu konstruieren, mit Kugellagern und Ersatzteilen auszustatten. Ab demselben Jahr bemalte er seine Objekte monochrom schwarz, sodass die diversen Oberflächenerscheinungen der miteinander kombinierten Objets Trouvés und Materialien verschleiert wurden und stattdessen ein homogener grafischer Eindruck erzielt wurde. Für die Schweizer Landesausstellung Expo 64 in Lausanne baute T. die schwarze Maschinenskulptur Heureka (heute Zürich, Zürichhorn), sein bis dahin größtes Werk. Sie arbeitete im Leerlauf, stellte keine Zchngn her, produzierte nichts außer tosendem Lärm. Ihre Bewegungsabläufe - schweres Heben und Senken eines Trichters, geschäftiges Schieben, aggressives Stoßen, endloses Kreisen zahlloser Räder - konnten als Sinnbild des menschlichen Lebens gelesen werden. Die massive Materialität und die schiebenden und stoßenden Bewegungen inspirierten T. zu weiteren Arbeiten. Ab 1964 schuf er die Reihe der Bascules, Objekte auf gebogenen Kufen oder Eisenwiegen, die eine heftige oder behäbige Schaukelstuhlbewegung durch Schwerpunktverlagerung vollziehen (Ohne Titel, Eisenplatte, Metallbefestigungen, Elektromotor, schwarz bemalt, 1968, Aarau, Aargauer Kunsthaus). Diese Bewegungsabläufe verweisen nicht virtuell in den Umraum der Plastik, sondern umschließen das Objekt, sie sind von "introvertiertem Char." (Rotzler, in: Bischofberger, 1990). Im Gegensatz dazu steht die ebenfalls ab 1964 entstandene Eos-Gruppe. Die Bewegung dieser Skulpturen ist durch das Vorstoßen eines "Arms" gekennzeichnet, sodass sich die Bewegung virtuell in deren Umraum ausdehnt. Im Anschluss folgten Maschinen, die auf Rädern in den Rillen von Gleitschienen hin- und herfuhren, die sog. Chars. In ihnen wird offensichtlich, dass T. nach Objekten strebte, die sich uneingeschränkt durch den Raum bewegen. Diese Tendenz verfolgte er weiter mit dem E.der 1970er Jahre entwickelten motorisierten Gefährt Klamauk, das erstmals 1979 während einer Ausst. im Städel in Frankfurt am Main vorgeführt wurde. Außerdem engagierte er sich auf der Bühne: Einige seiner schwarz bemalten Plastiken wurden im Dez. 1965 zu Akteuren im Rahmen der Theateraufführung The Tinguely Machine Mystery or Love Suicides at Kaluka. Das Stück des US-amer. Dichters Kenneth Koch wurde am 21. und 22.12. im Jewish Mus. in New York aufgeführt. 1966 gestaltete T. zus. mit De Saint Phalle und Raysse das Bühnenbild für das Ballett L'Éloge de la Folie (Lob der Torheit) von Roland Petit. Er fertigte einen kinetischen Bühnenvorhang aus Aluminium, der von einem Tänzer auf einem Fahrrad angetrieben wurde. Weitere Gemeinschaftsarbeiten folgten: 1966 bauten T., De Saint-Phalle und Per Olof Ultvedt die begehbare Monumentalplastik HON in Gestalt eines Frauenkörpers. Im Inneren befanden sich u.a. diverse Radkonstruktionen, eine Bar und eine Slg mit gefälschten Bildern. Für die WA Expo 1967 in Montreal konstruierten T. und De Saint-Phalle den Paradiesgarten (Le Paradis fantastique, sieben Doppelskulpturen, 1966), der auf dem Dach des Frz. Pavillons platziert wurde (heute Stockholm, Mod. Mus., Garten). Zudem baute T. für den Schweizer Pavillon das Wandrelief Requiem pour une feuille morte (Stahlrahmen, Holz- und Metallräder, Gummiriemen, geschweißtes Blatt, weiß bemalt, alles Übrige schwarz bemalt, Elektromotor, 1967, Fond. Renault, heute Paris, Centre Pompidou). Dieses Relief knüpfte an die Gerüststruktur für den Bühnenvorhang des Balletts Éloge de la Folie an. Weitere Reliefs dieser Art folgten (Märchen-Relief, Eisenrahmen auf Rädern, Gummiriemen, Holz, diverse Räder, Kinderspielzeug, Elektromotoren, 1978, Duisburg, Lehmbruck Mus.). Im Unterschied zu T.s Objekten, die keine eindeutige Schauseite besitzen, sondern umschritten werden können, weisen die freistehenden Reliefs zwei Schauseiten auf. Der Besucher wird erneut in den Bewegungsablauf der Plastik eingebunden bei der Ballspielmaschine Rotozaza No. 1 (1967, Paris, Coll. Bénédicte Pesle), in die er Bälle hineinwirft, die von der Maschine wieder ausgespuckt werden. So entsteht ein endloser Kreislauf, ein Spiel zw. Maschine und Rezipient. Der Ausstellungsraum wird zu einer Art Spielplatz. Weitere Rotozaza-Fassungen folgten, wie die Rotozaza No. 2 (1967, Mus. Tinguely), die wie am Fließband Bierflaschen zerschlägt. Auch die Rotozaza 3 (1969, von T. demontiert) ist auf ein zerstörerisches Tun hin angelegt. Sie wurde 1969 in einem Schaufenster des Warenhauses Loeb in Bern präsentiert und zerstörte mit einem Eisenhammer rund 12000 Teller vor den Augen der Passanten. E. der 1960er Jahre nahm T. sein größtes Projekt in Angriff: Er erwarb ein Grundstück b. Milly-la-Forêt nahe Fontainebleau und baute dort zus. mit Künstlern wie Rauschenberg, Bernhard Luginbühl, Arman, Edward Kienholz, César und Dieter Roth den mon. begehbaren Kopf La Tête (Le Cyclop, Le Monstre dans la Forêt). 1970 engagierte er den Bauschlosser Seppi Imhof, der ihn bei dem Großprojekt unterstützen sollte und bis zu T.s Tod dessen Ass. blieb. Das mon. Gemeinschaftswerk ging 1987 als Geschenk in den Bes. des frz. Staates über, war zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht vollendet. Nach T.s Tod übernahm De Saint-Phalle die Verantwortung für das Projekt, das 1994 fertiggestellt, von François Mitterand eingeweiht und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. A. der 1970er Jahre begann T., Lampen zu gestalten. Anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Vrg Nouv. Réalistes wurde 1970 in Mailand ein großes Festival organisiert, an dem er sich beteiligte. Eine mon. Skulptur in Form eines Phallus wurde auf dem Domvorplatz in einer spektakulären Aktion niedergebrannt. Im Rahmen der Salzburger Festspiele 1972 entwarf er die Kostüme und das Bühnenbild für die Neuinszenierung des Cenodoxus (Regie Werner Düggelin). Dieter Forte hatte dafür das urspr. Stück des Jesuiten Jakob Biedermann von 1602 überarbeitet. Für die Inszenierung konstruierte T. mon. Skulpturen, auf denen die Schauspieler agierten, darunter ein Riesenrad und eine Himmelsschaukel. Die schwarz bemalten Objekte warfen harte Schatten an die umliegenden Wände und nahmen zus. mit den Geräuschen, die sie in aktiviertem Zustand von sich gaben, den gesamten Bühnenraum ein. Für die Eröffnung des Centre nat. d'art et de cult. Georges Pompidou in Paris 1977 arbeitete T. zus. mit mehreren Künstlern an der begehbaren Monumentalplastik Crocrodrome in Gestalt eines Drachens. Das 25 m lange und 9 m hohe Werk beherbergte eine Geisterbahn sowie Spoerris "Mus. Sentimental" (nach der Ausst. demontiert). 1978 begann er die Reihe der sog. Meta-Harmonien: mit Klangelementen versehene mon. Reliefskulpturen (Meta-Harmonie I, Eisenrahmen, dreiteilig auf Rädern, Holz- und Metallräder, Gummiriemen, Musikinstrumente, Fundgegenstände, Elektromotoren, 1978, Wien, MUMOK). A.der 1980er Jahre wandelte sich T.s Bildsprache: Zu den bisher verwendeten Eisenstangen und -rädern, Altmetallelementen, dem Spielzeug und den Alltagsgegenständen gesellten sich nun Tierschädel und Skelette. Die Arbeiten wurden morbider und thematisierten deutlich Vergänglichkeit und Tod. Eines der eindringlichsten Beispiele des Spätwerks ist der Cenodoxus-Altar (1981, Basel, Helvetia KS), dessen Titel auf das gleichnamige Theaterstück zurückgeht, für das T. in Salzburg 1972 das Bühnenbild geschaffen hatte. Auch der Isenheimer Altar von Matthias Grünewald diente als Inspirationsquelle. Zahlr. weitere Arbeiten lassen auf eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Tod schließen, u.a. die Skulptureninstallation Inferno (1984), das figurative Arrangement Die Hexen oder Schneewittchen und die sieben Zwerge (1985) oder der Mengele-Totentanz (1986), ein aus den Resten eines abgebrannten Bauernhofes gebauter Altar. Im Gegensatz zu den morbiden Arbeiten stehen die nunmehr ausladenden Lichtskulpturen, die Wärme, Licht und Leben ausstrahlen, wie das 1983 entstandene Environment in der Cafeteria zur Münz, Zürich. Vitalität und Dynamik gehen auch von der ausladenden Skulptur Pit-Stop von 1984 aus, die T. im Auftrag der Autofirma Renault konstruiert hatte. Sie besteht aus über 60 Teilen zweier Renault Formel-1-Rennwagen, die auf Eisenträgern montiert und mit Elektromotoren in Bewegung gesetzt werden. Die Skulptur hat bewegliche "Arme", an denen Filmprojektoren installiert sind. Diese strahlen Filmsequenzen mit dem Rennfahrer Alain Prost aus, die sich überblenden und mitunter in Slowmotion versetzt sind. Es ist die einzige Arbeit, in die T. Filmprojektoren integrierte. Zeitlebens war er vom Motorsport begeistert und widmete diesem oder befreundeten Rennfahrern, darunter Jo Siffert, weitere Werke. Auch von der Basler Fasnacht war er fasziniert und engagierte sich 1974-89 bei der Truppe der Kuttlebutzer, für die er u.a. 1985 die Kostüme entwarf. In diesem Jahr musste sich T. einer schweren Herzoperation unterziehen. Nach der Rekonvaleszenz folgte 1986-91 die letzte Phase intensiven Schaffens mit 379 neuen Arbeiten, u.a. der 1988 beg. Werkreihe der Philosophen, in der T. seinen phil. Wurzeln nachspürte. Sie umfasst figurative Plastiken, die Persönlichkeiten gewidmet sind, welche T. bes. geprägt haben wie Henri Bergson, Martin Heidegger, Arthur Schopenhauer, Rudolf Steiner und Ludwig Wittgenstein. 1988 wurde der Espace Jean Tinguely - Niki de Saint Phalle des MAH in Fribourg eröffnet (Standort einiger Arbeiten von beiden). Neben seiner bildhauerischen Tätigkeit widmete er sich dem Zeichnen. Bereits seine Lehrerin an der Gewerbeschule in Basel, Julia Eble-Ris, entdeckte T.s diesbezügliche Begabung. Diese Tätigkeit erfüllte für ihn versch. Aufgaben: Er experimentierte damit, entwickelte neue Projekte oder trieb diese voran. Er zeichnete Bauanleitungen, fertigte eigenständige Zchngn und bildete Collagen aus alltäglichen Materialien und gez. Fragmenten. Darüber hinaus übertrug er Zchngn in Druckgrafiken. Zchngn dienten auch als Vorlagen für Plakate, Einladungskarten oder Bücher. In den späteren Schaffensjahren nahmen seine Zchngn verstärkt malerische Qualitäten an, sie wurden formatfüllend und in leuchtenden Farben ausgeführt. Kurz nach einem Herzinfarkt (20.8.1991) starb T. im Inselspital in Bern. Bereits zu Lebzeiten wurden seine Werke in zahlr. Ausst. weltweit gezeigt und gingen in renommierte öff. und priv. Slgn ein. Nach T.s Tod wurde Mario Botta auf Initiative von Paul Sacher und Fritz Gerber mit dem Bau des Mus. Tinguely beauftragt. Es wurde 1996 im Basler Solitude-Park eröffnet und beherbergt u.a. zahlr. Werke aus dem Bes. seiner Fam. und von De Saint-Phalle. Dort beschäftigt man sich eingehend mit T.s Leben und Werk, und seine Skulpturen werden immer wieder mit zeitgen. Positionen in Verbindung gebracht, sodass ihre fortwährende Aktualität in einer von techn. und digitalen Umwälzungen geprägten Zeit unterstrichen wird. - T. gehört zu den Hauptvertretern der kinetischen Kunst in der 2.H. des 20.Jahrhunderts. Unter den Eisenplastikern ist er neben Luginbühl einer der bekanntesten Künstler der Schweiz. Zuvor als kunstunwürdig geltende Materialien und scheinbar Immaterielles sind die Werkstoffe für T.s Maschinen. Bewusst verzichtete er auf eine exakte Verarbeitung der einzelnen Bauteile und legte den Entstehungsprozess seiner Arbeiten offen. Darüber hinaus löste T. die Trennung zw. Werk und Betrachter auf. In seinen Plastiken sind Ereignis- und Objekthaftigkeit untrennbar miteinander verbunden. Vorbilder für seine kinetischen Objekte waren möglicherweise die "Stehende Woge" (1920) von Naum Gabo und Alexander Calders Reliefs und Mobiles. An T.s Maschinenkunst und plastische Ereignisse knüpften Kunstschaffende späterer Generationen an, darunter Rebecca Horn, Rosa Barba, Andreas Fischer (1972), Michael Sailstorfer und Simon Starling.
Für Statik, Manifest, Handzettel, Dd. 1959; Static, static, static (Vortrag ICA), Lo. 1959; Kunst ist Revolte, in: Nat.-Ztg (Basel) v. 13.10.1967, 1; Absagebrief nach Goslar, in: Frankfurter Allg. Ztg v. 20.9.1980, 25.
Einzelausstellungen:
Paris: 1954 Gal. Arnaud; 1958 Gal. Iris Clert (zus. mit Yves Klein); 1988 MNAM; 2024 Centre Pompidou (mit Saint Phalle und Pontus Hulten) / 1960 New York, Staempfli Gall. / 1963 Los Angeles (Cal.), Dwan Gall. / 1964 Baden-Baden, SKH (K); Houston (Tex.), MFA (K) / 1968 Chicago, MCA / 1968-69 Amsterdam, Sted. Mus. / 1972 Basel, KH (K); Stockholm, Mod. Mus. / 1979 Frankfurt (am Main), Städel (zus. mit Luginbühl; K) / 1982 Zürich, Kunsthaus (K); London, Tate Gall. / 1987 Venedig, Pal. Grassi (Wander-Ausst.; K) / 1990 Moskau, Zentralhaus des Künstlers (K) / 1991 Wien, Mus. Hundertwasser / seit 1996 Basel, Mus. Tinguely / 2000 Wolfsburg, KM (K) / 2007 Rotterdam, Kunsthal (K) / 2016 Düsseldorf, Mus. Kunst-Pal. (Wander-Ausst.; K) / 2025 Duisburg, Lehmbruck-Mus. (mit Aeppli). -
Gruppenausstellungen:
Paris: 1955 Gal. Denise René, Le Mouvement; MNAM, 1959 Bienn.; 1977 Paris - New York (K) / 1961 Amsterdam, Sted. Mus.: Bewogen Beweging (Wander-Ausst.; K) / New York, MoMA: 1961 The Art of Assemblage; 1968 The Machine as seen at the End of the Mechanical Age (beides Wander-Ausst.; K) / 1964, '68, '77 Kassel: documenta (alle drei K) / 1998 Los Angeles (Cal.), MCA: Out of Actions (Wander-Ausst.; K) / 2005 Graz, Kunsthaus: Bewegliche Teile (Wander-Ausst.; K) / 2006 Salzburg, MdM Mönchsberg: Kunst auf der Bühne (K) / 2007-08 Frankfurt (am Main), Schirn: Kunstmaschinen - Maschinenkunst (Wander-Ausst.; K) / 2010 Liverpool, Tate: Joyous Machines (K) / 2012-13 München, Haus der Kunst: Ends of the Earth (Wander-Ausst.; K) / 2018-19 Essen, Mus. Folkwang: Der montierte Mensch (K) / 2024 Herning, HEART MCA: Socle du Monde. Do it!.
Thieme-Becker, Vollmer und AKL:
Vo6, 1962
Weitere Lexika:
LZSK, 1981; Plüss/Tavel II, 1983; KVS, 1991; DA XXX, 1996; BLSK II, 1998; Bénézit XIII, 1999.
Gedruckte Nachweise:
J.Canaday, The New York Times v. 18.3.1960, 1; G.Glueck, ibid. 24.12.1965, 15; P.Hultén, J.T. Méta, B. 1972; P.Iden, Frankfurter Rundschau (Ffm.) v. 31.7.1972; L.Bezzola, Werk (Z.) 1972(9)488; C.Bischofberger (Bearb.), J.T. Werk-Kat., Küsnacht/Z., I, 1982; II, 1990; III, 2005; L.R. Stumm/K.Wyss, J.T., Basel 1985; M.Hahnloser/L.Bezzola, Pandämonium J.T., Bern/Z. 1988; M.Hahnloser (Ed.), Briefe von J.T. an Maja Sacher, Bern 1992; H.E. Violand-Hobi, J.T. Biogr. und Werk, M./N.Y. 1995; Maschinentheater (K), Heilbronn 2001; B.Weyandt, Maschinerie des Todes, Sankt Ingbert 2002; Niki & Jean (K), Hn. 2005; Und es bewegt sich doch (K), Bochum 2006; Robert Rauschenberg, J.T. Collaborations (K Basel), Bielefeld 2009; Mus. Tinguely Basel. Die Slg, He./B. 2012; J.Graser, in: G.U. Großmann/P.Krutisch (Ed.), The Challenge of the Object/Die Herausforderung des Objekts (Kongr. 2012), Tl 1, Nü. 2013, 302-306; ead., Das plastische Ereignis, Diss. Freie Univ. Berlin 2015, B. 2018; Mengele-Totentanz, He./B. 2018. - Interviews mit T.: A.Jouffroy, L'Œil (P.) 1966(136)34-43, 64 s.; F.Billeter, Das Kunstwerk 1967(9/10)15-23; S.Poley, in: Der Künstler - Clown der mod. Ges. (K Lehmbruck Mus.), Duisburg 1981, 221-227; M.R. Beaumont, Arts Rev. (Lo.) 1982, 451 s.; D.Petherbridge, Art Monthly (Lo.) 1982(61)3-6; S.Poley, in: J.T. (K KH der Hypo-Kulturstiftung), M. 1985, 34-129; H.N. Jocks, Kunstforum Internat. (Köln) 1991(115)266-275; M.Hahnloser, Interview 1988, in: Pour Lyon (K Mus. Tinguely), Basel 2001, 13-20; A.-K. Günzel, Kunstforum Internat. 2024(297)276-285; A.Erhard, ibid. 304:2025(Juli/Aug.)254-261.
Onlinequellen:
Hist. Lex. der Schweiz; SIKART Lex. zur Kunst in der Schweiz; Website Mus. Tinguely, Basel.
Tinguely, Jean, schweiz. Maler u. Metallplastiker, *1925 Basel, ansässig in Paris. Stud. 1940/44 an d. Kstschule in Basel. Bis 1950 Maler. Ging dann zur Plastik über. Beschickt seit 1954 den Salon d. Réalités Nouvelles. Beteiligt an der Internat. Ausst. Zeitgenöss. Plastik im Mus. Rodin 1956 u. an d. Ausst. Le Mouvement in d. Gal. Denise René in Paris, 1955. Sonderausst.: 1954 in d. Gal. Arnaud in Paris, 1956 in d. Gal. Denise René, 1957 in d. Gal. Ed. Loeb in London, 1958 u. 59 in d. Gal. Iris Clert; 1959 im Hessenhuis in Antwerpen, in d. Gal. Schmela in Düsseldorf u. in d. Kaplan Gall. London, 1960 im Haus Lange in Krefeld u. in d. Gal. Staempfli in New York. Hauptsächl. kinetische Bilder (Mobiles). Plastische Wanddekoration im Theater Gelsenkirchen. Im Mus. of Mod. Art in New York das Bild: Hommage à New York. Lit.: Seuphor. Seuphor 1959, m. Abb. - Apollo (Lo.), 65 (1957) 302; 70 (1959) 30 u. 132. - Art in Amer., 47 Nr 4, Winter 1959, p. 110. - Art Internat. (Zürich), 3 (1959) Nr 7 p. 90 (Abb.); 4 (1960) Nr 4 p. 69, m. Abb.; 5 (1961) Nr 4 p. 69 (Abb.). - The Art News, 54 (1955) Juni p. 49 (Abb.); 59 (1960) März p. 18, April p. 16. -Arts, 34 (1960) März p. 55f., m. Abb. - Baukst u. Werkform, 13 (1960) 131, m. Abb. - The Burlington Magaz., 102 (1960) 132, 229. - Bild. Kst (Dresden), 1960 p. 852f. - D. Kstwerk (Baden-Baden), 11 (1957/58) H. 3 p. 17 (Abb.), 18 (Abb.). -The Studio, 157 (1959) 26f. - Ausst.-Kat.: 42 junge Schweizer, Plastik, Malerei, Zeichng, Städt. Mus. Leverkusen, Schloß Morsbroich 1960, ms Abb.; Denise René (Gal. Paris) expose, Städt. Mus. Leverkusen, Schloß Morsbroich, März/Mai 1959, m. Fotobildn.