Scamozzi, Vincenzo, ital. Architekt, Architekturtheoretiker, Zimmermann, *2.9.1548 (oder 1552) Vicenza , †7.8.1616 Venedig.
Scamozzi, Vincenzo
S. war Sohn des Gian Domenico S., Zimmermann, Architekt und Holzhändler, der oft Gutachten für Immobilien anfertigte. In den Bauten des Vaters ist wie auch bei and. Architekten des Veneto seiner Zeit das Vorbild Andrea Palladios sichtbar. S. ging wohl beim Vater in die Lehre, denn 1575 wird er als Zimmermann bezeichnet. Mit der Lehre war anscheinend eine künstlerische und archit. Schulung verbunden; der Vater interessierte sich für Architekturtheorie und spielte daher lt. S. eine wichtige Rolle in dessen Ausbildung. S. wohnte in seiner Jugend bei seinem Vater und arbeitete mit ihm zusammen. Danach erhielt er eine gehobene Ausb.; vermutlich besuchte er das 1566 gegründete bischöfliche Seminar in Vicenza. Der Vater ermöglichte ihm einen Aufenthalt in Rom (Okt. 1578-Mai 1580), wo er er die antiken Bauten studierte; von diesen Studien sind Kpst. der Thermen des Diokletian und des Caracalla erhalten. Am Collegio Romano hörte er Vorlesungen des berühmten Mathematikers Christophorus Clavius. - Archit. Werk: S. schrieb sich selbst einige Häuser in und um Vicenza zu, die schon um 1570 geplant wurden. Bei einigen, wie der großen Villa für Leonardo Verlato in Villaverla, muss eher Gian Domenico als maßgeblicher Urheber angenommen werden; dessen stilistischer Einfluss auf S. wird am Pal. des Pierfrancesco Trissino (1577) beim Dom von Vicenza offenkundig. S. übernahm vom Vater bes. die Serliana als bestimmendes Motiv für die Gestaltung von Hausfassaden. Der Vater war es wohl auch, der S. potenten Auftraggebern vermittelte, die entweder selbst oder deren Fam. bereits Palladio beschäftigt hatten. Schon 1574-76 schuf S. mit der sog. Rocca Pisana eines seiner Hw., die Villa für Vittorio Pisani in Lonigo, dem ältesten der drei Brüder, die Palladio mit dem Bau der Villa in Bagnolo beauftragt hatten. Die Rocca Pisana bildet ein Gegenstück zu Palladios Villa Rotonda: Wie diese ist sie auf einem Hügel mit weiter Aussicht gelegen, hat einen quadratischem Grundriss mit rundem Mittelsaal, dessen Kuppel den Quader überragt, und umfasst sogar die gleichen Grundmaße. Während jedoch die "Villa Rotonda" im Sinne einer perfekten Symmetrie mit vier Portiken vielmehr als realisiertes Architekturideal, als im Hinblick auf die Wohnsituation entworfen ist, bestimmen die Wohnräume die Disposition der Rocca Pisana. Bestimmendes Gestaltungselement der eher bescheideneren Fassade ist der in den Quader eingestellte Portikus. S. führte am Kuppeltambour mit den Rippen und Konsolgesimsen Motive ein, die er später mehrfach wieder aufnahm, und plante v.a. den Lichteinfall sorgfältig. S. wiederholte die Disposition der Rocca Pisana, ein Bau auf quadratischem Grundriss mit eindrucksvollem Ädikula-Portikus, dessen M. von einer Tambourkuppel bekrönt wird, mit geringen Veränderungen 1594 in einem Entwurf für eine Villa des Valerio Bardellino b. Asolo. Eine freie Variante kreiert er 1597 für Nicolò Molin in der Villa Molin in Mandria b. Padua. Nach seiner Rückkehr aus Rom 1580 wurde S. zum Nachf. Palladios in Vicenza. Er vollendete die Vicentiner Bauten, die bei Palladios Tod im Aug. 1580 noch nicht abgeschlossen waren, wie die Villa Rotonda und das Teatro Olimpico, für das er die Prospekte ergänzte (1584-85). Er führte Palladios Stil in Vicenza weiter. Der prominenteste Neubau dieser Zeit ist der Pal. für Galeazzo Trissino an der Hauptstraße von Vicenza (Pal. Trissino, 1588). Gleichwohl referenziert S. bei diesen Bauten nicht nur Sebastiano Serlio. Während etwa die Betonung der Fassadenmitte des Pal. Trissino durch den Einsatz der Serliana deutlich auf diesen verweist, hat die Disposition des Säulenhofes mehr Gemeinsamkeiten mit Leone Leonis Casa degli Omenoni in Mailand. Die eigenwillige Fassadengliederung der Villa für Girolamo Ferretti in Dolo b. Vicenza (Villa Ferretti-Angeli, 1596) mit ihren überschlanken, dicht zueinander stehenden Pilastern wäre für Palladio undenkbar gewesen. S. hatte nach seiner Rückkehr aus Rom auch gleich die Förderung führender venez. Patrizier gewonnen, u.a. Marcantonio Barbaro, der gemeinsam mit seinem Bruder Daniele schon für Palladio wichtig war. Noch vor Palladios Tod übersiedelte S. nach Venedig und war fortan für die Republik tätig. Der Senat erteilte ihm 1581/82 den Auftrag, die Staatsbauten an der Piazza S. Marco zu vollenden. S. führte die Libreria Marciana nach dem Entwurf Jacopo Sansovinos bis auf die Höhe der Fassade der Zecca an der Mole fort, errichtete hinter der Fassade der Libreria das Atrium der Zecca und das Antiquarium für die Slg antiker Statuen, die Giovanni Grimani der Stadt geschenkt hatte (1591-93). Gegenüber den Alten Prokuratien sollte er die Seitenfassade der Liberia bis zur Kirche S. Geminiano, die gegenüber S. Marco lag, als Front der Neuen Prokuratien fortsetzen. Seinem Plan den gesamten Komplex auf drei Geschosse zu erhöhen und dafür Sansovinos mächtiges Kranzgebälk der Libreria durch ein niedriges Zwischengebälk zu ersetzen, wurde nicht stattgegeben; stattdessen setzte er über die zwei bestehenden Geschosse der Neuen Prokuratien ein drittes mit Fenstern zw. korinthischen Halbsäulen auf, die Sansovinos Vorbild mit niedrigerem Zwischengebälk fortsetzten. Die Höfe der Neuen Prokuratien gestaltete er so aufwendig, dass sie auf Kritik stießen; heute hingegen gelten sie als künstlerischer Höhepunkt des Baus. S. überwand die große Höhe der engen Zwischenräume, indem er die M. einer jeden Fassade betonte und bes. markante Motive einsetzte. Er realisierte zehn Arkaden der Neuen Prokuratien. Der Bau wurde von Baldassare Longhena vollendet; die Höfe wurden nicht nach S.s Vorbild fortgesetzt. In der F. wurde S. mit dem Bau zweier Kirchen am Stadtrand Venedigs beauftragt. Die Zisterzienserkirche S. Maria Celeste oder Celestia b. Arsenal (ab 1582) sollte einen Hauptraum in Form einer Rotunde über acht massiven Pfeilern erhalten. Nach Baubeginn stieß S.s Konzeption jedoch auf so harte Kritik, dass die beg. Ansätze abgebrochen und 1605 durch einen and. Bau ersetzt wurden. 1590-96 errichtete S. die Theatinerkirche S. Nicolò da Tolentino im Westen von Venedig. Für die junge Kongregation der Theatiner, die im Geist des Konzils von Trient eine auf Bescheidenheit ausgerichtete Reform des Klerus anstrebte und so auch eine einfache archit. Gestaltung favorisierte, hatte S. bereits drei kleine Kirchen in Padua und Este errichtet. Im Rahmen eines Bauprogramms, das der Bischof Federico Grimani von Padua initiierte, baute S. zunächst S. Gaetano (1581) in Padua. Die rechteckige, farblose Fassade wird, wie bei S. Silvestro, durch korinthische Pilaster in Kolossalordnung und ein Attikageschoss gegliedert; beide Zonen werden von einem stark auskröpfenden Gesims abgeschlossen. Ein tiefer Chor und seitlich sich anschließende Kapellen ermöglichen den quadratischen Grundriss der Kirche. Im oktogonalen Hauptschiff gehen eng gestellte Pilaster, die statt von Piedestalen direkt vom Boden hin zu einem stark verkröpften Gebälk aufsteigen, in einen dichten Kranz von Rippen im Gewölbe über und erwirken eine dynamische Raumeinheit. Den bescheidenen Vorgaben zum Trotz schuf hier S. ein wegweisendes Mon., in dem er Elemente der mod., röm. Archit. mit palladianesken und individuellen Elementen verband. Gerade im Vergleich mit and. Kirchen auf quadratischem Grundriss (z.B. Palladio, Chiesa della Zitadelle, Venedig) zeigt sich die Neuartigkeit des Raumkonzepts. Anscheinend aufgrund des Erfolgs von S. Gaetano wurde S. von den Theatinern in Venedig angestellt. Dem Vorbild der nunmehr prunkvollen Hauptkirche S. Andrea della Valle (Planung 1586-91) folgend, nahm er für den Neubau von S. Nicola da Tolentino (gen. Tolentini, 1591-1602) die durch Il Gesù popularisierte Disposition des tonnengewölbten Saalbaus mit Seitenkapellen und Vierungskuppel auf. Im Gegensatz zu seinen prominenten Vorbildern ist S. Nicola da Tolentino betont konservativ gestaltet, ähnlich wie Sansovinos Kirchenbau S. Francesco della Vigna für die Franziskaner. S.s Entwurf mit drei Konchen um den erw. Kuppelraum und die strenge, klare Gliederung kommen Donato Bramantes Konzeption für S. Biagio della Pagnotta nahe, die auch für Palladio vorbildlich war. Die Dimension des Sakralbaus hingegen ist wohl der Anzahl der Gläubigen geschuldet. Ab 1588 schuf S. einige Villen für venez. Patrizier in der Umgebung von Padua. 1609 wurde er mit dem Auftrag für den Pal. Contarini degli Scrigni am Canal Grande in Venedig endlich mit einer Bauaufgabe betraut, die für das venez. Patriziat stark an die lokale Bautradition gebunden war und trotz der Wertschätzung für die palladianische Archit. wenig Innovation zuließ. Wie Sansovino und Michele Sanmicheli und später noch auffälliger Longhena, die dies in ihre Bauten einbezogen, passte sich auch S. an, indem er Elemente von Sansovinos Pal. Corner a S. Maurizio und von Serlios Hausentwürfen übernahm. Dies steht im Gegensatz zu seinen ohne Einschränkungen entworfenen Bauten, wie der Pal. für Antonio Priuli in Padua (1597), bei dem die Fassade in extravaganterem Stil mit für ihn typischen Motiven gestaltete. Die Voll. des Teatro Olimpico brachte S. den Auftrag ein, das Theater in Sabbioneta, der Residenzstadt einer Nebenlinie der Herzöge von Mantua, zu errichten (1588-90). Der Außenbau ist in dem für die ganze Residenz typischen Stil Mantuaner Prägung gehalten. Der Theaterraum folgt der im Sinn der Antike ausgerichteten Disposition des Teatro Olimpico, die auch für das Teatro Farnese in Parma vorbildlich wurde, das Giovanni Battista Aleotti 1617-18 errichtete. Allerdings nahm S. eine Veränderung vor, die ebenfalls wegweisend wurde: Er ersetzte die Vitruvianische Scenae frons durch einen Straßenprospekt, der die gesamte Breite des Proszeniums einnimmt. 1611 berief die Stadtverwaltung von Bergamo S., um den Neubau des Rathauses weiterzuführen und den Dom zu vollenden. In diesem Zusammenhang entwarf S. auch Pal. für zwei priv. Auftraggeber in Bergamo und Genua. Die vorgelegten Pläne für alle diese Bauten wirken eher wie Idealentwürfe, die höchstens eingeschränkt ausführbar waren. Nur einige Räume im Rathaus und ein kleiner Ansatz der Fassade wurden damals ausgeführt; die Fassade wurde erst 1928-58 nach S.s Entwurf vollendet. 1604 reiste S. auf Einladung des Erzbischofs Wolf Dietrich von Raitenau nach Salzburg, um die im Jahr zuvor beg. Planung für den Neubau des durch einen Brand zerst. romanischen Doms, zur Zeit seiner Stiftung die größte Basilika nördlich der Alpen, und der Häuser für die Verwaltung, des sog. Neubaus, voranzutreiben; in welcher Funktion er in diesem Kontext tätig war, ist unbekannt. Während zunächst eine Wiederherstellung angestrebt wurde, wurden 1602 ein kompletter Neubau und die Umstrukturierung des gesamten Stadtzentrums beschlossen. S.s palladianische Entwürfe für den Neubau ist in auf 1606/07 dat. Zchngn überliefert. Urspr. zur Publ. für den nie erschienenen 5. Bd der L'idea della archit. universale bestimmt, sind die Vorschläge wahrsch. idealisiert; in der Forsch. ist umstritten, ob S. tatsächlich Entwürfe für den Neubau einreichte. Ein Jahr nach der Grundsteinlegung 1610 musste Raitenau von seinem Amt zurücktreten, sein Nachf. Markus Sittikus ließ den Dom in seiner heutigen Gestalt ab 1614 durch Santino Solari errichten, dessen Pläne auf S.s Ideen, wenn auch in stark veränderter Form, zurückgehen. Für den Neubau im Bautyp der Peterskirche in Rom wurden die von S. vorgesehenen Dimensionen reduziert, der Außenbau wurde ganz schlicht ohne S.s aufwendige Gliederung ausgeführt und statt S.s ungewöhnlicher Fassade mit Arkadengängen wurde eine Zweiturmfassade errichtet. Die niedrige Kuppel venez. Prägung wurde durch eine Kuppel über hohem Tambour ersetzt. Im Innenraum folgte Solari mit großen Pilastern, statt der von S. anvisierten palladianesken Halbsäulen über Piedestalen, der röm. Bautradition. Die für den Bau vorgesehene Empore plante S. mit Serlianen zum Hauptschiff zu öffnen und folgte darin etwa den Kolonnaden der Basilica Palladiana in Vicenza bzw. der R. großer Serlianen der Empore in S. Maurizio Maggiore, die ab 1503 in Mailand errichtet wurde. - Architekturtheorie: S. zeichnete sich durch seine große Gelehrsamkeit aus. Wohl unter Einwirkung des Vaters nahm er im Alter von etwa 21 Jahren intensive theoretische Studien auf. Seine umfangreiche Bibl. schloss u.a. alle gedruckten Architekturtraktate der Renaiss. ein, darunter auch viele ausländische, wie diejenigen Albrecht Dürers, Hans Blums oder Philibert de l'Ormes, zudem die Mss. Francesco di Giorgios und Leonardo da Vincis. Seine Exzerpte, die er 1586 in den Sommari zusammenstellte und die eine der wenigen bis heute erh. sind, umfassten alles, was für die Architekturgeschichte und für die Kulturentwicklung im Allg. bed. sein konnte. S. versah ungewöhnlich viele Bücher mit Glossen, darunter mehrere Architekturtraktate sowie die "Viten" des Giorgio Vasari, aber auch etwa "Della eccellenza" (1578) von Orazio Lombardelli, eine Abhandlung über das Bücherlesen. Bes. interessant sind die ausführlichen Glossen im Vitruv-Kommentar des Daniele Barbaro von 1567 und in einem Exemplar der Ed. der ersten fünf Bücher Serlios von 1551, das er wohl von seinem Vater geerbt hatte. Außer vielen sachlichen Belangen, geben sie detailliert Einblick in S.s Studien, bes. der Rezeption Vitruvs oder die Diskussion zentraler theoretischer Probleme. 1584 realisierte S. die wohl vom Vater anvisierte Sammeledition von Serlios inzwischen sieben Büchern, die bislang ausschl. durch Literaten herausgegeben worden war. Der Index der Ed. wurde wohl schon von diesem vorbereitet, S. ergänzte dies entgegen der üblichen Praxis mit eig. Kommentaren im Stil seiner Glossen. Den folgenden Aufl. (1600, 1619) ist ein vom Vater verfasster "Discorso intorno alle parti dell'archit.", der vermutlich von S. überarbeitet wurde, vorangestellt. Nach eig., von and. bestätigten Aussage verfasste S. "seit seiner frühesten Jugend", in jedem Fall vor 1581, sechs ill. Bücher über die Perspektive, von denen allerdings nichts überliefert ist. 1582 erschienen die Discorsi sopra l'antichità di Roma, ein mit Kpst. ill. Bd, dessen Darst. Battista Pittoni 1561 nach Veduten röm. Ruinen hrsg. von Hieronymus Cock angefertigt hatte. In den erklärenden Texten bespricht, identifiziert und klassifiziert S. die Bauten auf der Basis gelehrter Romführer (Alberti, Serlio), behandelt ihre Funktion oder beurteilt ihre Qualität. Damit sind seine Kommentare erheblich detaillierter als diejenigen Palladios, die jener 1554 nach seinen ersten Romreisen veröffentlicht hatte. Von Aug. 1599 bis Mai 1600 reiste S. im Gefolge des venez. Botschafters Pietro Duodo von Venedig über Wien und Budapest nach Prag und von dort allein nach Frankreich weiter, um den venez. Botschafter Francesco Contarini zu treffen und nach Paris zu begleiten. Die Rückreise, die die beiden über die Schweiz nach Italien im März antraten, hielt S. in einem ill. Tagebuch archit. Besonderheiten fest, insbes. große Kirchen, aber auch Wohnhäuser, urbane Strukturen oder Baumaterial. 1615 publizierte S. vier der geplanten zehn Bücher seines anspruchsvollen und umfangreichen Werks L'idea della archit. universale, an dem er seit 1590 gearbeitet hatte. Eine R. von Zchngn und Kpst. sowie eine Kopie eines Kapitels, für das sie bestimmt waren, sind erhalten. Der Traktat ist in zwei Tle gegliedert. Der erste Tl behandelt allg. Aspekte der Archit. und den Beruf des Architekten, Richtlinien der archit. Planung sowie antike und mod. Bautypen, von denen nur das Buch über die priv. Wohnbauten zur Ausf. gelangte. Der zweite Tl umfasst Säulenordnungen, Baumaterial und die einzelnen Bestandteile eines Gebäudes; die beiden letzten Bücher über Dekoration und Rest. etc. fehlen. Behandelt werden gleichermaßen theoretische wie praktische Belange. Bes. der Blick auf das Praktische unterscheidet ihn von allen and. ital. Theoretikern der Renaiss.; so berücksichtigt er ausführlich Beleuchtung, Gewölbe, Gutachten für Immobilien, Gärten oder den Einsatz von Säulenordnungen. Der Traktat besticht außerdem durch seinen hohen wiss. Anspruch. Von der intensiven Auseinandersetzung mit der Antike zeugt die Analyse der Funktionen von Thermen, Gymnasien, Theatern und Arenen oder die Rekonstr. der Villa Laurentinum nach der Beschr. des jüngeren Plinius. S. überdachte den Widerspruch zw. den wiss. begründeten Normen der Künste und der künstlerischen Freiheit des Genies, ein Problem, das zunehmend von zeitgen. Theorien, bes. im Zusammenhang mit dem Konzept der "idea", behandelt wurde (Gian Paolo Lomazzos, Federico Zuccaris). S.s Idea fasst die gesamte Architekturtheorie der Renaiss. zusammen und enthält, auf der Grundlage von Vitruv, Elemente von allen wichtigen Traktaten. Die Gelehrsamkeit und der hohe wiss. Anspruch konkurrieren mit Albertis "De re aedificatoria", von dem er auch viele einzelne Elemente übernimmt. Der realistische Bezug auf zeitgen. Verhältnisse findet Parallelen bei Filarete, Francesco di Giorgio und Pietro Cataneo. Die Gestaltung der Säulenordnungen basiert auf Vignola und Palladio. Wie in Palladios "Quattro libri" leitet S. die Behandlungen der priv. Bauten mit einer Rekonstr. der antiken Wohnarchitektur ein und stellt anschl. die von ihm geplanten Bauten vor. Wie Serlio ist es S.s Ziel mit Idea einerseits ein Lehrbuch vorzulegen, andererseits zw. guter und schlechter Archit. zu unterscheiden. Während die ital. Architekturtheorie der Renaiss. sich stark auf Italien konzentriert, stellt S. in Idea Bauformen versch. Länder, von Spanien bis Litauen, einander gegenüber. Statt der stereotypen in Italien üblichen Geringschätzung ma. Archit. konzentriert S. sein Interesse im Tagebuch der Frankreichreise hauptsächlich auf ma. Bauten und bewertet sie unvoreingenommen und vielfach positiv. Ungewöhnlich ist auch, dass selbst die neue osmanische Archit. in Konstantinopel lobend erwähnt wird. S. weist darauf hin, dass auch die Osmanen, ähnlich wie die Italiener, eine Renaiss. der Antike in der Archit. heraufgeführt haben, ein Aspekt, der bis heute wenig Beachtung findet. Idea erlebte zahlr. neue Aufl. in Italien (u.a. 1687, 1694, 1714) und war in Europa mit Übersetzungen ins Niederl., Engl., Dt. und Frz. enorm einflussreich. Nördlich der Alpen war Idea noch vor Vignolas oder Palladios Traktaten zunächst der am weitesten verbreitete Nachf. von Serlios Büchern. Im 17. Jh. wurde meist nur das Buch über die Säulenordnungen und manchmal dasjenige über den profanen Wohnbau (mit den Bauten S.s) übersetzt. Letzteres war, wahrsch. mehr noch als seine realisierte Archit., entscheidend für die Verbreitung von S.s Stil. In den Niederlanden verbreitete sich Idea unmittelbar nach S.s Tod durch Justus Sadeler, der alle 670 Exemplare aus S.s Nachlass erwarb und von denen Peter Paul Rubens 1617 eines kaufte. Die niederl. Übersetzungen erlebten acht Aufl., darunter zwei in Taschenbuchformat. Bes. Beachtung fand die "Idea" auch in England, v.a. durch Inigo Jones, der sie glossierte und über den S. auch in der F. rezipiert wurde.
Discorsi sopra l'antichità di Roma, Ve. 1584; L'idea della archit. universale, Ve. 1615 (zahlr. Ed. und Übers.); A.Fabrizi, Studi Seicenteschi 17:1976, 101-137; B.Mitrovic/V.Senes, Annali di Archit. 14:2002, 195-213; L.Collavo, Saggi e Memorie di Storia dell'Arte 29:2005, 1-213; M.E. Avagnina (Ed.), Appunti di viaggio, Pd. 2009; H.Günther, RIHA J. 58:2012 (online).
Thieme-Becker, Vollmer und AKL:
ThB29, 1935
Weitere Lexika:
Toman II, 1950; ELU IV, 1966; List, 1967; Schede Vesme III, 1968; Oudin, 1970; DA XXVIII, 1996; MU, 1997
Gedruckte Nachweise:
F.Sansovino/G.Stringa, Venetia, Ve. 1604; T.Temanza, Vita di V.S., Ve. 1770; G.Zorzi, Arte Veneta 10:1956, 119-132; id., Arte Veneta 11:1957, 119-128; id., Arte Lombarda 6:1961, 20-40; G.Germann, Einf. in die Gesch. der Architekturtheorie, Da. 1980; H.-W. Kruft, Gesch. der Architekturtheorie, M. 1985; D.Howard, Archit. hist. of Venice, New Haven/Lo. 2002; R.Franz, V.S. Nachf. und Vollender Palladios, Petersberg 1999; F.Barbieri/G.Beltramini (Ed.), V.S., Ve. 2003; A.M. Borys, V.S. and the chorography of early mod. archit., Farnham 2014; F.Barbieri (Ed.), Nella mente di V.S., Vi. 2015; id. u.a. (Ed.), V.S. teorico europeo, Vi. 2016; W.Nerdinger, Archit. in Deutschland im 20.Jh., M. 2023
Onlinequellen:
Sonder-Ausg. S., RIHA J. 58-60:2012