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Pugin, Augustus Welby Northmore

Geboren
London, 1. März 1812
Gestorben
Ramsgate (Kent), 14. September 1852
Land
Großbritannien
Geschlecht
männlich
GND-ID
Weitere Namen
Pugin, A. W. N.; Pugin, Augustus Welby Northmore; Pugin, Augustus Northmore Welby
Berufe
Architekt*in; Architekturzeichner*in; Aquarellmaler*in; Kupferstecher*in; Designer*in; Zeichner*in; Dekorateur*in; Möbelgestalter*in; Architekturschriftsteller
Wirkungsorte
England, London
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Von
Borngässer Klein, Barbara
Zuletzt geändert
01.03.2024
Veröffentlicht in
AKL XCVII, 2018, 137

VITAZEILE

Pugin, Augustus Welby Northmore, engl. Architekt, Architekturtheoretiker, Designer, Dekorateur, Möbelgestalter, Zeichner, Kupferstecher, *1.3.1812 London, †14.9.1852 Ramsgate, Sohn des urspr. aus Frankreich stammenden Architekten und Buchillustrators Augustus Charles P., Vater des Architekten und Kunsthandwerkers Edward Welby P. und der Architekten Peter Paul P. und Cuthbert Welby P.

LEBEN UND WIRKEN

P. ist der einflussreichste Vertreter des Gothic Revival im frühen viktorianischen England; in seinen zahlr. Bauten und Schriften propagiert er den konsequenten Bruch mit der fortlebenden, an Antike und Renaiss. orientierten Architektur. Die von ihm bevorzugte gotische Baukunst gilt ihm dabei nicht nur aus ästhetischen, sondern auch aus konstruktiven Gründen als vorbildlich, ein Standpunkt, den unwesentlich später Eugène Emmanuel Viollet-le-Duc in Frankreich vertritt. P.s Ideen fußen auf einem zutiefst empfundenen vorreformatorischen Christentum, das für ihn in der ma. Kathedrale seinen spirituellen, ges. und künstlerischen Höhepunkt findet. Sein archit. Hw. ist die Ausgestaltung des Westminster Pal. und der Bau des zugehörigen Uhrturms Big Ben in London. Seine zahlr. Kathedral- und Kirchenbauten finden Nachahmung im gesamten brit. Imperium, sein Möbel- und Gebrauchsdesign bereitet der Arts-and-Crafts-Bewegung den Weg. Seine zuweilen polemischen Schriften halten dem anbrechenden Industriezeitalter den Spiegel einer idealisierten, auf Gott vertrauenden ma. Ges.-Ordnung vor. - Leben und künstlerische Hw.: Ausb. in London im Atelier seines Vaters, den er auf seinen Studienreisen durch England sowie 1825 und 1827 durch Frankreich begleitet; P. fertigt Zchngn gotischer Kathedralen, u.a. von Notre Dame in Paris. Ab 1826 Schmuckdesigner und Bühnenbildner, Möbelentwürfe für Schloss Windsor im Auftrag der Polsterfirma Morrel and Seddon. 1831 erste von drei Eheschließungen, Fam.-Gründung, Eröffnung eines Geschäfts für Zeichenbedarf, 1833 Umzug nach Salisbury, dort Landerwerb und Bau von St Marie's Grange, dem ma. inspirierten Wohnhaus der Familie. Motiviert durch das Stud. der ma. Sakral-Archit. konvertiert der von seiner Mutter presbyterianisch geprägte P. 1834 zum Katholizismus. Der Neubau der Houses of Parliament mit dem Westminster Pal. nach der Brandkatastrophe im Okt. 1834 eröffnet P.s fulminante Karriere als Baumeister und Dekorateur. Der Architekt Charles Barry beauftragt ihn mit der Anfertigung von Zchngn für den Wettb. um die Neugestaltung des Pal. im neugotischen oder elisabethanischen Stil. 1836 fällt die Entscheidung zugunsten der neugotischen Pläne Barrys und P.s, sie werden allerdings erst zw. 1840 und '60 realisiert. Während die gesamte üppige Inneneinrichtung (Kamine, Möbel, Tapeten, Glasfenster, Skulpturen) unzweifelhaft ein Werk P.s ist, bleibt sein Anteil am Bauwerk unklar. Vermutlich geht das eher klassische Konzept der mon. axialsymmetrischen Anlage auf Barry zurück, während P. die archit. Details (Strebepfeiler, Türmchen und Ornamente im spätgotischen Stil) hinzufügt. P. bemerkt dazu: "All Grecian, Sir; Tudor details on a classic body" (Ferrey, 1861, 248). Abschluss und Krönung seines ersten und umfänglichsten Werks ist der frei stehende, quadratische Uhrturm am Nordflügel des Pal.; als Big Ben (nach seiner größten Glocke) wird er Institution und Wahrzeichen des British Empire. P. entwirft den neugotischen Ziegelbau allerdings erst kurz vor seiner geistigen Verwirrung im Jahre 1852, er erlebt dessen Voll. 1859 nicht. - P.s antiquarische Kenntnis der insularen und mittel-europ. Gotik sowie seine glühende Verehrung des ma. Christentums prädestinieren ihn für den Kirchenbau. In John Talbot, 16th Earl of Shrewsbury, findet er einen Freund und Förderer, der ihn in den engeren Kreis der röm.-kath. Erneuerer einführt. Ab 1835 errichtet er mehr als 60 Sakralbauten in England und Irland und liefert Pläne für Kathedralen, Kirchen und Kap. in Amerika und Australien. Zu den bedeutendsten zählen St Chad's Cathedral, Birmingham (beg. 1839), St George's Cathedral in Southwark, Greater London, (1840, Wiederaufbau), St Giles' in Cheadle, Staffordshire (1840), St Barnabas's Cathedral, Nottingham (1841), und St Mary's Cathedral, Killarney/Irland (1842). Trotz seiner Konversion ist P. gleichermaßen für röm.-kath. wie für anglikanische Auftraggeber tätig. P.s weiträumige Kirchen sind oft symbolträchtig über kreuzförmigem Grundriss errichtet, in ihrer Ausstattung dominiert der Decorated Style mit Maßwerk und üppigem skulpturalen Dekor. In Erinnerung an die vorreformatorische Liturgie erhalten viele Kirchenschiffe skulpturengeschmückte Lettner. Die Bauten sind neugotische Gesamtkunstwerke, in denen jedes Detail, vom Portal bis zur Turmspitze, von der Kirchenbank bis zum Altar, von der Fliese bis zum Leuchter vom Architekten nach ma. Vorbildern gestaltet wird. P. reist dafür durch England und Frankreich und fertigt unzählige Detailstudien an. Großen Wert legt er auf die Wahl lokaler Bau-Mat. und die konstruktive Logik der Archit., die er in der ma. Kathedrale vorgegeben sieht. Denselben Prinzipien folgen die zahlr. Konvente, Colleges und Schulbauten, die sich zu vielgliedrigen Organismen erweitern. Unter P.s Landhäusern ragt der neugotische Um- und Ausbau von Scarisbrick Hall (1836-45) hervor, der allerdings durch seinen Sohn Edward Welby P. 1861-67 stark verändert wird. P.s eigenes (zweites) Haus, The Grange in Ramsgate (ab 1841), zeigt am ehesten sein künstlerisches Verständnis: Die Räume des in gelbem Ziegelstein errichteten Hauses gruppieren sich um die große repräsentative Halle, so die Bibl., der Dining Room mit dem wappengeschmückten Kamin sowie die Haus-Kap. mit Sakristei. Die Schlafzimmer der Fam. liegen im Obergeschoss, das von der Halle über Treppen erschlossen wird. Die gediegene Ausstattung ist bis ins kleinste Detail von P. gestaltet, u.a. die Tapeten, farbigen Glasfenster und bemalten Holzdecken. Zwar gilt der Stil des Dekors bald als überholt, weshalb P.s Sohn Edward auch hier "modernisierend" eingreift, dennoch bleibt die Konzeption des Herrenhauses seiner Funktionalität wegen lange vorbildlich. Die benachbarte St Augustine's Church wird ab 1846 von P. auf eigene Kosten neu errichtet. In den 1840er Jahren erreicht P.s Schaffen seinen Höhepunkt, wie zahlr. Aufträge belegen (WV bei Hill, 2008). 1840 wird er zum Prof. of Ecclesiastical Antiquities am St Maries' College in Oscott ernannt. 1847 bereist er Italien, wo ihn die Zeugnisse der Renaiss. und des Barock erwartungsgemäß befremden, lediglich die ma. Bauten Oberitaliens finden seinen Beifall. 1851, von einer seit Jahren latenten Krankheit (vermutlich Syphilis) gezeichnet, fungiert er als "Commissioner of fine arts" für die Londoner WA und gestaltet für diese den Medieval Court, die Nachbildung eines ma. "Hofes" mit üppigem neugotischen Dekor. Die überladene Installation bleibt ein Fremdkörper in der sonst fortschrittsorientierten Schau; deren Hauptattraktion, Joseph Paxtons Glaspalast, bezeichnet P. als "glass monster" und "crystal humbug". Nach einem Nervenzusammenbruch im Feb. 1852 gerät P. in einen Zustand geistiger Verwirrung und stirbt nach monatelangen Hospitalaufenthalten am 14. Sept. 1852 in Ramsgate; er wird in seiner Hauskirche St Augustine's bestattet. - Mehr noch als durch seine Bauten wirkt P. durch seine Stichwerke und Schriften, die er zw. 1835 und 1851 publiziert. Liefern die Ornaments of the XVth and XVIth centuries ... (1835-37) in ihren vier Bänden vor allem detaillierte Vorlagen für Schreiner und Kunsthandwerker, so werden die Stiche der folgenden Werke christlich-moralisch interpretiert: In den Contrasts ... (1836) stellt er der lieblichen, von gotischen Kirchtürmen bekrönten Stadt des MA eine fingierte zeitgen. Ansicht zur Seite, die von monotonen Häuserfronten, rauchenden Fabrikschloten und im Vordergrund einem abweisenden Gefängnis geprägt wird. Generell dient ihm die klassizistische Baukunst, u.a. die Werke Christopher Wrens, als Paradigma kulturellen und sittlichen Verfalls, dem nur die Restauration der kath. Kirche Einhalt gebieten kann. In den True Principles ... (1841) begründet er diese Haltung u.a. damit, dass nur die gotische Baukunst mit ihrer beeindruckenden Stein-Archit., mit ihren kühnen Strebewerken und Gewölbekonstruktionen einer christlichen Ges. angemessen sei; in der Analyse von Mat. und Bautechnik vertritt P. damit durchaus mod. funktionalistische Positionen. Die antikische Baukunst sei dagegen nicht mat.-gemäß und gehöre einem heidnischen Kulturkreis an; für eine christliche Ges. sei sie in mehrerer Hinsicht ungeeignet. So bricht P. in bis dato unbekannter Konsequenz mit der klassischen Kunst und ersetzt das über Jh. geltende Vorbild der Antike durch die Gotik. P.s künstlerisch-soz. Utopien reagieren auf den Utilitarismus des beginnenden Industriezeitalters. Seine zuweilen polemische Argumentation, seine zunehmend bigotte Haltung desavouieren ihn jedoch in den Augen seiner Zeitgen. und Nachfolger. John Ruskin und William Morris, die seine weltanschaulichen Ansätze und seine Vorliebe für die Gotik durchaus teilen, verleugnen jeden Einfluss auf ihr Werk, Ruskin nennt ihn seines umfangreichen, weltweit verbreiteten Œuvres zum Trotz den "smallest possible or conceivable architect" (J.Ruskin, The Stones of Venice, Lo. 1851, 372). Kenneth Clark bemerkt dazu: "If Ruskin had never lived, P. would never have been forgotten" (Clark, 31962, 144) . P.s Söhne arbeiten gleichermaßen als Architekten, vertreten jedoch modernere künstlerische Positionen. Ihre Fa. "Pugin & Pugin" liefert Entwürfe für Kirchen und deren Ausstattung bis nach Australien und Neuseeland.

WERKE

Kirchen: Brighton, St Paul's Parish Church, Glasfenster, 1848. Enniscorthy/Wexford (Irland), St Aidan's Cathedral, 1843. London-Woolwich, St Peter's Church, 1842. Macclesfield, St Alban's, 1839. Manchester-Hulme, St Wilfrid's Hulme, 1839. Stockton-On-Tees/Durham, St Mary's, 1841. Klöster, Colleges, Schulen: Coalville/Leicestershire, Mount St Bernard Abbey, 1844. Handsworth/Birmigham: Convent Of Mercy, 1840. Maynooth (Irland): St Patrick's College, beg. 1845. New Oscott/Birmingham: St Mary's College, 1838. Schlösser und Landsitze: Alton/Staffordshire, Castle, 1843. Banwell/Somerset, Castle, 1847. Carnforth, Leighton Hall, 1850. - Archit. in Australien nach Plänen P.s: Berrima/New South Wales: St Francis Xavier's, 1849. Brisbane: St Stephen's Chapel (zwischenzeitlich Kathedrale), 1848. Sydney-Chippendale: St Benedict's; S.-Paramatta, St Patrick's Cathedral, 1837 (1996 zerst.).

SELBSTZEUGNISSE

Ornaments of the XVth and XVIth centuries. Ancient timber houses at Rouen, Caen, Beauvais, & c., Gothic furniture of the XVth century. Designs for gold & silver ornaments, and designs for iron & brass-work in the style of the XVth and XVIth c., 4 Bde, Lo. 1835-37; Contrasts: or a parallel between the noble edifices of the MA, and corresponding buildings of the present day; shewing the present decay of taste, Lo. 1836; The True Principles of Pointed or Christian Archit., Lo. 1841; The Present State of Ecclesiastical Archit. in England, Lo. 1843; An apology for the revival of Christian Archit., Lo. 1843; Floriated ornament: a series of thirty-one designs, Lo. 1849; A Treatise on Chancel Screens and Rood Lofts, Lo. 1851; An Earnest Address, on the establishment of the Hierachy, Lo. 1851; M.Belcher (Ed.), The Collected Letters of P., 4 Bde, Ox. 2001-2012.

AUSSTELLUNGEN

Einzelausstellungen:

London: 1994 V&A (K); 1995 The Bard Graduate Center for Studies in the Decorative Arts (K) / 2003 Canberra, Nat. Libr. of Australia (K) / 2012 Dublin, Archit. Gall. at the Irish Archit. Arch. (K) / 2015 Waterford, Irland: Lismore Castle.

 

QUELLEN

Thieme-Becker, Vollmer und AKL:

ThB27, 1933

 

Weitere Lexika:

Grant, Dict., 1952; ELU IV, 1966; Mallalieu I, 1976; Wodehouse 1978; Houfe, 1981; PKG XI, 1984; Lister, 1984; DA XXV, 1996

 

Gedruckte Nachweise:

B.Ferrey, Recollections of A.N.Welby P., and his Father Augustus P., Lo. 1861; R.Turnor, Nineteenth c. archit. in Britain, Lo. 1950; H.-R. Hitchcock, Early Victorian Archit. in Britain, 2 Bde, Lo. 1954; K.Clark, The Gothic Revival, Lo. 31962; P.Stanton, P., Lo. 1971; S.Muthesius, The High Victorian Movement in Archit., 1850-1870, Lo. 1972; J.Dobai, Die Kunst-Lit. des Klassizismus und der Romantik in England, Bd 3, Bern 1977; D.Watkin, Morality and archit. The development of a theme in archit. hist. and theory from the Gothic revival to the Modern movement, Ox. 1977; A.Wedgwood, P. and the P. Fam. Cat. of the Drawings Coll. of the R. Inst. of British Architects, Lo. 1977; Dixon/Muthesius, 1978; Lambourne/Hamilton, 1980; C.Jones, The Great Palace. The story of Parliament, Lo. 1983; M.Belcher, P.: an annotated critical bibliogr., Lo. 1987; H.-W.Kruft, Gesch. der Archit.-Theorie, M. 1991; D.Meara, P. and the Revival of Memorial Brasses, Lo. 1991; J.G.Harries, An ill. life of P., 1812-1852, Buckinghamshire 1994; G. Gere/M.Whiteway, Nineteenth-C. Design: From P. to Mackintosh, N.Y. 1994; P.Atterbury/C.Wainwrigth (Ed.), P.: Master of Gothic Revival, New Haven 1995; G.T. Noszlopy, Public sculpt. of Birmingham, Liverpool 1998; R.Dixon/S.Muthesius, Victorian Archit., Lo. 22001; B.Andrews (Ed.), Creating a Gothic Paradise: P. at the Antipodes, Hobart 2002; H.C. Long, Victorian Houses and Their Details: The Role of Publ. in Their Building and Decoration, Ox. 2002; M.J. Fisher, Staffordshire and the Gothic revival, Ashbourne 2006; C.Powell, P., Designer of the British Houses of Parliament: The Victorian Quest für Liturgical archit., Lewiston/NY 2006; R.Hill, God's architect: P. and the building of romantic Britain, New Haven 2008 (WV); S.Shepherd, The Stained Glass of P., Reading 2009; S.H. Koller, Historienmalerei im New Pal. of Westminster, Rb. 2011; M.Fisher, Gothic for Ever: P., Lord Shrewsbury and the Rebuilding of Catholic England, Reading 2012; G.J. Hyland, The Archit. Works of P., Reading 2014 (WV); C.Shenton, Mr Barry's war: rebuilding the Houses of Parliament after the Great Fire of 1834, Ox. 2016; W.Nerdinger, Archit. in Deutschland im 20.Jh., M. 2023

 

Onlinequellen:

archive.org (zahlr. Publ. P.s); The Pugin Soc.; The Victorian Web (WV); Archiseek (Werke in Irland)