Frei zugänglich

Ruskin, John

Geboren
London, 8. Februar 1819
Gestorben
Brantwood (Lake District), 20. Januar 1900
Land
Großbritannien
Geschlecht
männlich
GND-ID
Weitere Namen
Ruskin, John
Berufe
Architekturmaler*in; Landschaftsmaler*in; Maler*in; Zeichner*in; Radierer*in; Lithograf*in; Aquarellmaler*in; Kunstschriftsteller; Sozialreformer; Kunstkritiker; Ästhetiker; Gesellschaftskritiker
Wirkungsorte
Brantwood (Conistonsee), Venedig, Oxford (Oxfordshire), Meersbrook Hall
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Von
Berents, Catharina
Zuletzt geändert
19.12.2023
Veröffentlicht in
AKL C, 2018, 166; ThB XXIX, 1935, 224 s

VITAZEILE

Ruskin, John, engl. Zeichner, Aquarellist, Kunsthistoriker, Ästhetiker, Kunstkritiker, Gesellschaftskritiker, Sozialreformer, *8.2.1819 London, †20.1.1900 Brantwood/Lake District.

LEBEN UND WIRKEN

R. war der einzige Sohn des wohlhabenden Sherryhändlers und Kunstsammlers John James R. und seiner Frau Margret R., geb. Cox. Sein künstlerisch und kulturell ambitioniertes Elternhaus, R. reiste bereits in jungen Jahren mit seinen Eltern durch Europa, sicherte ihm die Grundlage für sein Schaffen. Auf diesen Reisen u.a. nach Frankreich, Italien und in die Schweiz entbrannte seine lebenslange Passion für die Alpen, für Geologie und Meteorologie. 1839-42 Stud. in Oxford. R. war in seiner Mehrfachbegabung als bild. Künstler, Pädagoge und Prosaist eine einzigartige Erscheinung. - Noch im Jahr seiner Graduierung von Oxford begann R. die Arbeit an seinem berühmtesten Werk Mod. Painters (1843-60, fünf Bde). Ein Kompendium der Kunstkritik, das die Malerei der Gegenwart und Vergangenheit zum Thema hat, ihr Verhältnis zur Natur und die Naturdarstellung in den Fokus nimmt, Wasser, Wolken, Gletscher, Gesteine, Bäume und Äste autopsiehaft unter die Lupe nimmt. R. entwickelte darin eine moralisch intendierte Kunstphilosophie. Während der Arbeit an Mod. Painters entstand parallel sein Traktat The Seven Lamps of Archit. (1849). R. erklärte in diesem Essay an den "Sieben Leuchtern" seine Prinzipien der Archit., die er später in The Stones of Venice (1851-53, drei Bde) fortführte. Für die Arbeit an den Stones hielt R. sich zus. mit seiner jungen Ehefrau Effie, geb. Euphemia Chambers Grey auf zwei Reisen von 1849-50 und 1851-52 für insgesamt mehr als ein Jahr in Venedig auf. Die Stones of Venice erzielten einen noch größeren Erfolg als die Mod. Painters, teils bei den Venedig-Reisenden, teils aufgrund der sozialkritischen Passagen. R.s kunstphilosophische Theorien sind in direktem Zusammenhang mit seinen polit. und sozialkritischen Idealen zu sehen und mündeten in der von ihm so bezeichneten "Polit. Ökonomie der Künste" (cf. The Polit. Economy of Art, 1857; The Two Paths, 1859; Unto This Last, 1862; Time and Tide, 1867; Munera Pulveris, 1872). 1871-84 erschien die von ihm selbst herausgegebene Zs. Fors Clavigera, die ihm v.a. seit seiner Berufung nach Oxford (1869) ein unabhängiges Medium der Kunst- und Kulturkritik offerierte. 1871 kaufte R. das Anwesen in Brantwood/Lake District, das bis zu seinem Tod 1900 sein Hauptwohnsitz war. In seinen späten Jahren schrieb er The Storm-Cloud of the Nineteenth-C. (1884), ein Werk, das sich mit den sichtbaren Folgen der Industrialisierung auf die Entwicklung des Wetters beschäftigt und als eine Art Prophezeiung für das 20. und 21.Jh. betrachtet werden kann. Sein letztes autobiografisches Werk Praeterita entstand 1885-89. - Künstlerisches Werk: R. war als Zeichner und Aquarellist schon zu Lebzeiten in England sehr anerkannt und berühmt. Seine Werke wurden in der FA Soc. (1878) und in der Royal Soc. of Painters in Watercolour (1879), bei der R. Mitgl. war, ausgestellt. Die frühe Phase seines Schaffens (1830er Jahre) stand unter dem Einfluss des Malers und Grafikers Samuel Prout, der mit seinen Ansichten europ. Städte sehr erfolgreich war. Wie bei Prout standen seine frühen Arbeiten, die auf den Reisen mit seinen Eltern entstanden waren, in der Trad. der Vedutenmalerei, ein v.a. bei Touristen beliebtes Genre. Diese Zchngn versuchten minutiös und naturgetreu die Ansicht einer Stadt, eines Platzes oder einer prominenten Archit. wiederzugeben. In der zweiten Phase setzte, initiiert durch die Vignettenmalerei, bei der ein Bild auch ohne vollständigen Kontext und Rahmen auskam, ein Wechsel zur Fragmentierung des Bildgegenstands ein. In dieser Zeit war Joseph Mallord William Turner die wichtigste Referenz. An der Kunst Turners interessierte ihn das Atmosphärische, die Bewegung des Meeres oder der Wolken, die Darst. von Nebel, Licht oder der versch. Wetterbedingungen, die in einem Landschaftsbild Ausdruck fanden. Die Malereien, Aqu. und Grafiken Turners waren für R. somit Ausdruck von Vitalität und Dynamik, was für ihn natürliche Schönheit bedeutete. Denn R. entwickelte seine Vorstellungen von Ästhetik einzig aus der Natur. An Umriss- und Profillinien, bzw. Curves of Life, Lebenslinien, wie er sie nannte, entwarf R. sein Ideal von Schönheit, ganz ähnlich wie William Hogarth in "Analysis of Beauty" (1753), mit dem Unterschied, dass Hogarths "Lines of Beauty" letztlich konstruierte, also künstliche Serpentinen waren. Muscheln, Blätter, Gesteine, Äste lagen R.s Schönheitslinien zugrunde, die eine lebendige Schönheit zum Ausdruck brachten, die für R., der immer wieder an Krankheiten litt, weit über den ästhetischen Gehalt hinaus auch Heilung und Lebensprinzip bedeutete. Die vollendete Linie fand er in der Silhouette eines Ausläufers der Aiguille Blaitière bei Chamonix. Es sind feine graf. Linien und so ist auch sein eig. künstlerisches Schaffen dieser Zeit wesentlich grafischer aufgefasst als bei seinem Vorbild Turner. Auch sein Farbspektrum war ein anderes. Während Turner mit abgetönten Farben und Pastelltönen in Sfumato malte, verwendete R. in der Trad. ma. Malerei reinere und leuchtendere Farben. R. widmete einem Detail der Südfassade des Markusdoms in Venedig eines seiner berühmtesten Aqu.: S. Marco im Regen (1846, Oxford, Ashmolean Mus.). Diese Wasserfarbenmalerei ist keine flüchtige Skizze, sondern 40 cm hoch, doch wie bei allen Arbeiten, die R. in dieser Schaffensphase hervorbrachte, gibt es nur einen Ausschnitt, keine Totale, und das Bl. ist auch in sich unfertig, fragmentarisch. Es ging R. um Reize, um Glanz, Spiegelung und Farbigkeit. Die dunklen Flächen scheinen in Bewegung zu sein, um die an der Archit. herabfallende Nässe darzustellen. R. bezog sich hier unmittelbar auf sein großes Vorbild Turner, wenngleich er in der Wahl des Ausschnitts und im Weglassen des Wetters in der panoramatischen Szenerie von seinem Vorbild abwich. Dieses Aqu. wie R.s übrige Studien aus den Jahren 1845-65 sind dem Realismus zuzuordnen: Meist konzentrierte er sich in diesen Darst. auf ein oder zwei aussagekräftige Details und situierte diese innerhalb des größeren Zusammenhangs (Wetter, Licht, Kontingenz, Entropie). Die dritte und späte Phase von R.s künstlerischem Schaffen (ab 1870) stand sehr stark unter dem Einfluss seiner zunehmenden psychischen Erkrankung. Ein 1874 entstandenes Selbstporträt, eine Bleistiftzeichnung (Lancaster, Univ., Ruskin Found., Ruskin Libr.), zeugt von der Verwirrung und Depression, die R. in dieser Zeit durchlebte. In kurzen harten, nun nicht mehr lebendig schwungvollen Strichen, setzt sich das Gesicht aus zwei Hälften zus., die verschattete Seite mit hängendem Auge bringt tiefe Verzweiflung, die and. Verlorenheit zum Ausdruck. Ist der Duktus dieses Selbstporträts noch als durchgearbeitet und fertig zu bezeichnen, so können die in diesen Jahren auf Reisen entstandenen Faustskizzen nur als grobmotorische fahrig aufs Papier gebrachte Momentaufnahmen gelten. Im Gegensatz zu den detaillierten, akribischen Aufnahmen der vorherigen Jahre, zeichnete R. nun mit dickem Stift, ungeachtet von ornamentalen Details, Umrissen oder Fluchtlinien. - Pädagogisches Werk: R.s Theorie einer künstlerischen Ausb. ging vom Zeichenunterricht aus und war in engem Zusammenhang mit seiner Ges.- und Sozialkritik zu verstehen, die erstmals in voller Schärfe in The Stones of Venice artikuliert wurde. Ein aus Bd II ausgesteuertes Kapitel kursierte als Sonderdruck unter Arbeitern. Betitelt mit "The Nature of Gothic", enthält es R.s Gesellschaftskritik, die er wie Karl Marx auf dem zentralen Faktor Arbeit aufbaute, aber anders als Marx nicht vom Antriebsmittel Kapital ausging. R. bemaß Arbeit nach dem Grad ihrer Freiheit oder Unfreiheit im Prozess der Herstellung. Schönheit könne seiner Ansicht nach nur derjenige schaffen, der von schönen Dingen umgeben sei und die Muße habe, auf diese zu schauen. In den engl. Fabriken, in der Monotonie und entfremdete Arbeit durch unsinnige Aufgliederung der Arbeitsprozesse herrsche, sei "Design eine unmögliche Aufgabe" (Works, Bd 16, 340). R. lehnte den ab 1851 in der Folge der 1. WA in England eingeführten staatl. Zeichenunterricht ab, der auf die Optimierung der Warenproduktion und -ästhetik durch Vermittlung neuer Geschmackskriterien, Muster und Fertigkeiten abzielte. Diesem sehr auf Geometrie ausgerichteten Zeichenunterricht setzte er seine Ästhetik der freien und lebendigen Linie entgegen. R. ging es darum, seine Schüler für die Schönheit der Natur und der Kunst zu sensibilisieren, um auf diese Weise beim Zeichnen Freude empfinden zu können. In der Einleitung seiner Zeichenlehre Elements of Drawing (1857) heißt es folglich: "Das Sehen ist eine wichtigere Sache als das Zeichnen." (Works, Bd 15, 13). R.s hedonistischer Ansatz stand in einem klaren Gegensatz zu den utilitaristischen Ausbildungskonzepten der zeitgen. Schulen (ausgehend von der South Kensington School). In seiner Zeichenlehre hatte er einen Lehrplan entwickelt, der auf seine Zeitgen. unsystematisch wirken musste, aber sein Ziel, Natur und Kunst lieben zu lernen, konsequent verfolgte. Seine eher zusammenhanglosen Detailaufgaben standen jeglicher konventionalisierter Zeichensprache entgegen. Sein soziales Engagement, das u.a. durch seinen Freund den Philosophen und Historiker Thomas Carlyle angeregt wurde, reichte so weit, dass er in den 1850er Jahren am Londoner Working Man's College Arbeiter im Zeichnen unterrichtete. 1869 ernannte die Univ. von Oxford R. mit 50 Jahren zum ersten Slade-Prof. of FA, die erste offizielle Anerkennung seines Wirkens. In dieser Zeit lehrten und studierten bereits Vertreter liberal-humanistischer sowie ästhetizistisch-lebensphilosophischer Lehren wie Matthew Arnold und Walter Pater in Oxford. In seiner berühmten Antrittsvorlesung 1870 betonte R., dass die Kunst eines jeden Volkes ein Spiegel seiner sozialen und polit. Tugenden sei. Auch wenn die sozialkritische Stimme R.s mit seinem Eintritt in die Univ. Oxford deutlich leiser geworden war, so verstummte sie doch nicht. 1871 gründete er seine eig. Kunstschule in Oxford: The Ruskin School of Drawing and FA. Die Schule war urspr. im Ashmolean Mus. untergebracht. R. stattete sie mit einer umfangreichen Slg von Zchngn, Aqu. und künstlerischen Mat. aus, mit denen er u.a. seine Vorlesungen illustrierte. Bedenkt man, dass neben den Militärakademien die Schools of Design die einzigen staatl. geförderten Schulen in England waren, 1873 gab es 120 erfolgreiche Kunstschulen, so ging es hier um eine Aufgabe von nat. Rang. Mit der Gründung seiner eig. Kunstschule institutionalisierte R. nach 20 Jahren endlich seine Kritik an den staatl. Einrichtungen. Als überzeugter Realist interessierte sich R. in erster Linie für den Bildgegenstand, die Kunst war da Mittel zum Zweck: Zum einen ging es darum, die Schönheit der Natur zu erkennen, und zum anderen die Fähigkeit zu entwickeln, große Kunstleistungen nachzuempfinden. Kunst erfordere äußerste Aufmerksamkeit und Anstrengung, Kunst sei Arbeit, und von dieser künstlerischen Arbeit ausgehend, könne man auch die Regeln und Gesetze aller Arbeit einer Ges. ableiten (Works, Bd 20, 165). Damit verwies R. auf eine nichtentfremdete Arbeit, die allein den Menschen glücklich mache. Kunst solle aber niemals um ihrer selbst Willen entstehen: "Alle große Kunst ist Lob [...]. Die Kunst des Menschen ist Ausdruck der durch Vernunft und Bildung entwickelten Freude an Formen und Gesetzen der Schöpfung [...]. Viell. bloß eine Muschel oder ein Stein [...]" (Works, Bd 15, 351). Indem er Kunst untrennbar mit Natur und Ges. verknüpfte, vertrat R., anders als die Oxford-Ästheten, eine eher universalistische und am Gesellschaftsganzen orientierte Sichtweise. Kunst sollte nicht einem individualistischen Bildungsprogramm dienen, sondern ihre kollektive Kraft im Zusammenspiel mit den and. ges. Faktoren gewinnen, um ihre "lebensspendenden Segnungen zu entfalten" (Works, Bd 20, 114). Mit der Gründung der Guild of St. George (1871) schuf R. einen Raum, in dem seine kunstpädagogischen und sozialreformerischen Ideen gelebt werden konnten: eine Kooperative, die nach ma. Vorbild Nahrung, Kleidung und lebensnotwendige Mat. selbst herstellte. Er versuchte in der Guild das England zu retten, das für ihn durch die Industrialisierung verloren gegangen war. Durch R.s pädagogische Lehren zieht sich ein konstanter moralischer Impetus, so sind Disziplin und gutes Benehmen ebenso wichtig wie die praktischen Voraussetzungen, Kunst zu schaffen. - Schriftstellerisches Werk: Die theoretischen und kunstphilosophischen Ideen, die R.s Lehre in Oxford zugrunde lagen, entwickelte er bereits in den Mod. Painters und den Stones of Venice. "Die Wiss. handelt von den Dingen, wie sie an sich sind, die Kunst allein von den Dingen, wie sie die menschlichen Sinne und die menschliche Seele affizieren. [...] Beide sind um Wahrheit bemüht - die einen um die Wahrheit der Erscheinungen, die and. um die Wahrheit der Essenz." (Works, Bd 11, 47). In der großen Zeit der hist. und systematischen Wiss., wie sie durch Hermann von Helmholtz oder Charles Darwin vertreten waren, verfuhr R. ahistorisch und unsystematisch. Er klopfte in Mod. Painters die Kunst auf ihren mimetischen Gehalt ab. Seine ganze Aufmerksamkeit galt auch hier dem Werk Turners und der Pre-Raphaelite Brotherhood (William Holman Hunt, John Everett Millais, Dante Gabriel Rossetti). "Die präraffaelitische Kunst kennt nur ein Prinzip, das Prinzip absoluter, kompromissloser Wahrheit, das man nur erreicht, wenn man alles, wirklich alles bis zum letzten Detail vor der Natur und nur vor der Natur arbeitet." (Works, Bd 12, 157). R. war Empiriker wie Leonardo da Vinci und Johann Wolfgang von Goethe und wie diese ohne Willen zum System. Auch er war Erforscher, Beobachter und Sammler von Erfahrungen von bis dato als unsystematisch geltenden Phänomenen des Wetters, der Wolken, des Wassers, der Farben, der Spiegelungen, der Strömungen. Große Kapitelüberschriften in Mod. Painters wie "Reflections in Water", "Of Truth of Tone" oder "Of Truth of Clouds" zeigen, dass es ihm dabei primär um die Wahrnehmbarkeit und Erscheinung der Phänomene ging, nicht um deren physikalische oder chemische Gesetzmäßigkeiten. Eines seiner großen Ziele war es, zu einer Nachahmung des Unnachahmlichen zu gelangen, nämlich zur Unendlichkeit der Natur vorzustoßen, die für R. eine der höchsten Qualitäten darstellte. Diese Unendlichkeit äußere sich in der großen Zahl und Vielfalt der Erscheinungen, in Nuancen und Übergängen, im schnellen Wechsel der Formen und in den Phänomenen der Tiefe. In allen seinen philosophischen und theoretischen Schriften sind Vielfalt und Fülle, Abwechslung und Variationen zentrale Werte. Die klassischen Prinzipien der Ordnung lehnte er ab. Symmetrie, Axialität und Geometrie gehörten für ihn nicht zu den erstrebenswerten ästhetischen Parametern. Qualitäten wie Unfertigkeit, Asymmetrie und Fragmentierung, die von einem Prozess zeugten und damit lebendig waren, wurden von ihm propagiert und waren auf seine Studien der Baukunst und Ornamentik der Gotik zurückzuführen. R. selbst war ein besessener Realiensammler. Bei seiner Rückkehr aus Venedig nach England (1850), um sein Buch The Stones of Venice zu schreiben, hatte er sich eine Materialgrundlage aus Zchngn, Skizzen, Daguerreotypien und unzähligen Messdaten geschaffen. Der Autor hatte rund 2000 bis 3000 steinerne Objekte, Wände, Reliefs, Tür- und Fensterrahmen, Kapitelle und Gesimse vermessen, gezeichnet, fotografiert und in Gipsabdrücken plastisch reproduziert. Er war auch sehr interessiert an den Gesteinsarten und ihrer Herkunft. Seine Leidenschaft für das Sammeln materieller Zeugnisse ("stone by stone, to eat it all up into my mind, touch by touch", Works, Bd 10, XXVI) begründet sich in der Überzeugung, dass alle diese Steine Stile, Arbeitstechnik und Arbeitsorganisation, Ges.- und Frömmigkeitsgeschichte dokumentierten. Der Praktiker und Protagonist der Faktentreue wusste eben auch, dass Imitation nicht der einzige und höchste Wert der Kunst war. Höher rangierten bei ihm Imagination und Gefühl sowie eine dritte Qualität, die schwer begrifflich zu fassen ist. Wenn R. in Bezug auf Kunstwerke von "thought" oder "mind" sprach, dann setzte er voraus, dass Kunstwerke intelligent und geistreich sein sollten. - R.s Bedeutung ist bes. für die engl. Prosa erheblich und wird bisweilen mit der Rolle, die William Shakespeare für die poetische Sprache spielte, verglichen. Sein Einfluss als Stilist und Denker war in der 2. H. des 19. Jh. bis zum 1. WK am größten. Leo Tolstoi setzte sich dafür ein, dass seine Ideen in Russland Verbreitung fanden. Marcel Proust war nicht nur ein großer Bewunderer R.s, sondern sorgte dafür, dass dessen Schriften ins Frz. übersetzt wurden und Mahatma Gandhi paraphrasierte R.s Unto This Last in seinen gesellschaftskritischen und philosophischen Abhandlungen. Nach einer Phase des Vergessens nahm das Interesse an seinem Schaffen in England ab den 1960er Jahren wieder zu. Heute sind seine Theorien und Ideen v.a. im englischsprachigem Raum im Kontext von Umweltforschung und Nachhaltigkeitstheorien aktuell. Seine Bedeutung im Kunstbereich blieb nicht auf sein Wirken als Kunstkritiker beschränkt. In England fanden seine Ideen im Arts-and-Crafts-Movement ihren Widerhall, in Deutschland legten seine Ansichten, vermittelt durch Hermann Muthesius, die Grundlage für die reformerischen Ansätze der Vereinigten Wkstn und des Dt. Werkbunds. R.s umfangreiches Werk reflektiert sein fundiertes Wissen in so weitgefächerten Bereichen wie Kunst, Politik, Botanik, Geologie, Meteorologie, Poesie, Museologie, Archit. und Geschichte. R. wird in der Wissenschaftsgeschichte heute oft als Vorreiter interdisziplinärer Denkansätze gewürdigt.

WERKE

Lancaster, Univ., R. Found., R. Libr. London, Nat. Portr. Gall. - RA. - Brit. Libr. New York, Morgan Libr. Oxford, Ashmolean Mus., Penrith, Coll.

SELBSTZEUGNISSE

E.T. Cook/A.Wedderburn (Ed.), The works of J.R. (The Libr. Ed., Bd 39), Lo. 1903-12 (online); Mod. painters (Works, 3-7), Lo. 1843-60 (Dt. Ausg. L. 1902-04); The seven lamps of archit. (Works, 8), Lo. 1849 (Die Sieben Leuchter der Baukunst, L. 1900, Faks.-Ausg., ed. W.Kemp, Dortmund 1994); The stones of Venice (Works, 9-11), Lo. 1851-53 (Die Steine von Venedig, L./Jena 1903-06, Faks.-Ausg., ed. W. Kemp, Dortmund 1994); The elements of drawing (Works, 15), Lo. 1857; The political economy of art (Works, 16), Lo. 1857; The two paths (Works, 16), Lo. 1859; Unto this last (Works, 17), Lo. 1862 (Diesem Letzen, L. 1902, Repr., Ffm. 2017); Time and tide (Works, 17), Lo. 1867; The queen of the air (Works, 19), Lo. 1869; Munera Pulveris: Six essays on the elements of political economy (Works, 17), Lo. 1872; Lectures on art (Works, 20), Lo. 1870 (Vorlesungen über Kunst, L. 1906); Fors Clavigera: Letters to the workmen and labourers of Great Britain (Works, 27-29), Lo. 1871-84; Mornings in Florence: Simple studies of christian art, for engl. travellers (Works, 23), Lo. 1875-77; The bible of Amiens (Works, 33), Lo. 1880-85; The storm-cloud of the nineteenth c., Lo. 1884; Præterita (Works 35), Lo. 1885-89; The diaries of J.R., ed. J.Evans/J.H. Whitehouse, Ox. 1956-59; The Brantwood diary of J.R., ed. H.G. Viljoen, Lo. 1971; J. und Effie R., Briefe aus Venedig, ed. W.Kemp, übers. von C.Berents, St. 1995; Die Steine von Venedig, ed. C.Berents/W.Kemp, Wb. 2016

AUSSTELLUNGEN

Gruppenausstellungen:

2000 London, Tate Britain: R., Turner and the Pre-Raphaelites (K)

 

QUELLEN

Thieme-Becker, Vollmer und AKL:

ThB29, 1935

 

Weitere Lexika:

Grant, Dict., 1952; Pavière, Flower III.1, 1964; ELU IV, 1966; Mallalieu I, 1976; Bauer, GEM VII, 1978; Houfe, 1981; RoyalHibAcad III, 1987; Hunnisett, 1989; Wood, 1978 (Repr. 1991); A.Vincent, A companion to Victorian and Edwardian artists, Newton Abbot 1991; McEwan, 1994; DA XXVII, 1996; J.Walpole, A hist. and dict. of Brit. flower painters 1650-1950, Woodbridge 2006

 

Gedruckte Nachweise:

W.G. Collingwood, The life and work of J.R., Lo. 1900; E.T. Cook, The life of J.R., Lo. 1911; H.G. Viljoen, R.s Scottish heritage, Urbana 1956; J.D. Rosenberg, The darkening glass, Lo. 1961; R.Hewison, J.R.The argument of the eye, Pr. 1976; P.Conner, "Savage R." N.Y., 1979; J.D. Hunt, The wider sea, N.Y. 1982; W.Kemp, J.R., Leben und Werk, M. 1983 (The desire of my eyes. The life and work of J.R., Lo. 1991); T.Hilton, J.R.: The eraly years, New Haven/Lo. 1985; F.O'Gorman, J.R., Stroud 1999; T.Hilton, J.R.: The later years, New Haven/Lo. 2000; J.Batchelor, J.R. A life, N.Y. 2000; S.Quill/A.Windsor, R.s Venice. The stones revisited, Vermont 2000; J.R. - Werk und Wirkung, Z. 2002; J.S. Dearden, J.R., Buckinghamshire 2004; W.Kemp, in: W.Busch (Ed.), Randgänge der Zchng, M. 2007; K.Hanley/R.Dickinson (Ed.), Journeys of a lifetime, Lancaster 2008; K.Jackson, The worlds of J.R., Lo. 2010; id./J.Jacobson, Carrying off the palaces. J.R.s lost daguerreotypes, Lo. 2015 (Lit., WV).

 


THIEME-BECKER

Ruskin, John, Kunstschriftsteller u. Sozialreformer, Landschafts- u. Architekturmaler u. Zeichner, * London 8. 2. 1819, † Brantwood 20. 1. 1900. R., der in dem geistigen Leben Englands eine einzigartige Stellung einnimmt, einer der stärksten Exponenten der victorianischen Ära, der eine nur in England mögliche Verbindung eines Führers auf allen kunstler. Gebieten mit dem eines sozialen Propheten verband, ein glänzender, unendlich fruchtbarer Schriftsteller mit einem höchst persönlichen Stil, hat auch als schaffender Künstler seine Stelle in der Geschichte der engl. Malerei. Einziger Sohn des Großkaufmanns John James Ruskin, der selbst als Schüler des schott. Landschaf ters Alex. Nasmyth ein Malerdilettant war, gorgfältigst erzogen in einem Hause, in dem später William Turner, George Richmond, Samuel Prout als Freunde verkehren; auf langen Reisen geschult, nimmt er die Bildung auf, die Oxford bieten konnte, macht dort spät 1843 seinen M. A., ist aber gleichzeitig schon Schüler der Zeichen- u. Malschule von Copley Fielding u. Harding. Seine wirklichen Meister, denen er folgt, werden Prout, Roberts und vor allem Turner, dem er 1842 nahetrat, angesichts dessen letzterWerke er 1842 seinen, call" erlebt. Seine Entwicklung schildert er selbst ausführlich in den "Praiterita", 1885/89. Noch 1843 erscheint deri. Band der "Modern painters" zu Ehren und zur Ehrenrettung Turners. Schon hier verkündet R. das nun durch seine ganze Kunstschriftstellerei durchgehende Evangelium, daß jede große Kunst revelation gegenüber imitation sei, und daß der der beste Maler sei, der zugleich die meisten u. die höchsten Ideen auszudrücken imstande sei. Frühzeitig berührt er sich mit Venedig u. der ital. Kunst. In Venedig arbeitet er 1849/50, 1851/52 mit seiner jungen Frau, einer Malerin (der späteren Gattin von Millais), an den Aufnahmen der venez. Bauten. Er tritt in diesen Jahren, die ihm die Freundschaft von G. F. Watts, von Hunt u. Millais, später von Rossetti bringen, leidenschaftlich für den Präraffaelitismus ein. Die eigenen Zeichnungen u. Aquarelle, die er nach den strengen Regeln der "Society of water-colours" durch 50 Jahre ausfuhrte, nehmen in der Entwicklung der engl. Aquarellmalerei einen hohen Rang ein. Als Architekturzeichnungen, die mit der höchsten Strenge der Form den ganzen Stimmungsgehalt einzufangen suchen, stehen die Aufnahmen von Teilen von Einzelbauten aus Venedig, Florenz, Pisa, Lucca, aus Beauvais,Abbeville, Amiens, aus dem Tal der Loire in vorderster Reihe. Die "Stones of Venice" (1851/53) sind von ihm illustriert, ebenso die "Seven lamps of architecture" (1849); die schönsten 15 Aufnahmen sind in einem Foliowerk als "Examples of the architecture of Venice" veröffentlicht. Die Illustrationen zu den "Modern Painters" stehen noch am meisten unter dem Eindruck von Turner und dem der alten Meister und bringen vor allem in dem Aufbau der landschaftl. Gesamtkomposition, in dem wunderbar reichen Spiel der Wolken, in der Beobachtung des Himmels u. der Atmosphäre etwas Außerordentliches. Mit bescheideneren äußeren Mitteln wird hier die Größe der künstler. Vision Turners erreicht und in der Vergeistigung übertroffen. Wie Goethe sucht R. aus dem Studium der Geologie u. Mineralogie sich das Bild der Landschaft organisch aufzubauen. Neben den Aufnahmen von künstler. Einzelformen stehen mit naturwissenschaftl. Treue gefertigte Wiedergaben von Blumen, Vögeln, Fischen, Kristallen. Nachdem R. 1869 auf die neubegründete Slade-Professur in Oxford berufen war, gründete er dort sein Museum, die Ruskin Art Collection, mit der seit 1872 die von ihm gestiftete Ruskin Drawing School verbunden war, an der er 13 Jahre selbst gewirkt hat. Das Ruskin Museum ist 'in Oxford in dem Taylorian Building in der noch von ihm selbst geschaffenen Einrichtung untergebracht. In seiner Zeichenschule arbeiteten vor allem George Allen, W. H. Hooper, Arthur Burgess. Das Museum birgt 170 Aquarelle u. Zeichnungen von R.s Hand neben einer Fülle von Originalen, vor allem von Turner und weiter von Tintoretto bis auf Burne Jones. In 3 Systemen sind die Vorbilder, wie sie R. sich dachte, zusammengefaßt: einer standard series, einer rudimentary series u. einer educational series. In allen spielt die Landschaft die Hauptrolle, nach R.s Theorie die größere u. an Ausdrucksmöglichkeiten reichere Kunst gegenüber der figürlichen Kunst. Wenn er diese auch, wie seine Kopien nach Carpaccio beweisen, in hohem Maße beherrscht, so verschmäht er doch die Staffage auf seinen Landschaften und läßt den Genius der Natur für sich sprechen. Ein zweites Museum ist das südlich von Sheffield in Meersbrook Hall gelegene Ruskin Museum, das in Verbindung mit der von ihm hervorgerufenen Saint George Guild errichtet ward und mit Kunstschätzen aller Art, ital. u. engl. Originalgemälden, Zeichnungen, Manuskripten, Kupferstichen, aber auch mit Mineralien, Abgüssen u. Münzen ausgestattet ward - wiederum eine ganz einzigartige Lehrstätte, verbunden mit einer Bibliothek und einer graph. Sammlung. Heute geleitet von Prof. John Rothenstein. Die Anstalt sollte eine Abendschule für Handwerker sein und für ihre Bildung das Edelste aus der gewachsenen u. geformten Welt vereinen. Auch hier ist der Geist R.s lebendig geblieben. Seine Originalarbeiten sind vor allem in dem Ruskin Museum in Oxford zu suchen, daneben in Sheffield. In dem Landhaus zu Brantwood am Conistonsee, wo R. die beiden letzten Jahrzehnte s. Lebens verbrachte, heute als Erinnerungsstätte für ihn eingerichtet, und in der Bembridge School, Isle of Wight, hat I. Howard Whitehouse zwei große Sammlungen von R.s Arbeiten (darin über 1000 Zeichnungen) geschaffen. Die R. school in Oxford leitet in R.s Geiste Albert Rutherston. Lit.: W. G. Collingwood, The life and work of J. R., 2 Bde, Lo. 1893, mit Bibliogr. - M. H. Spie lm ann, J. R., Lo. 1900. - Paul GIerneu, J. R., Lpzg 1900. - J. Marshall Mather, J. R., his life and teaching, Lo. 1890. - Edward T. Cook, Studies in Ruskin, Lo. 1890 (darin p. 62 the Ruskin Drawing school). - Robert de la Sizeranne, R. et la religion de la beauté, Paris 1897. - R. H. W lenski, J. R., Lo. 1934. - E. T. Cook in: Dict. of Nat. Biogr., Suppl., 111 305; ders., R. as artist and art critic, in: The Studio, 19 (1900) 77/92. - Über das R. Museum in Oxford: The Ruskin art collection at Oxford, vol. 21 der library edition: The works of J. R., ed. by E. T. Cook and Alex. Wedderburn, 1906, mit Abdruck der sämtl. Kataloge, die eine ganz persönliche Einführung geben, und 73 Taf. meist nach Gemälden u. Zeichngn R.s. - Henry W. Acland and John Ruskin, Oxford Museum, publ. by George Allen 1893. - Über das Sheffield Museum: A descr. catal. of the library and print room of the Ruskin Mus. Sheffield, Lo. 1890, herausg. von George Allen. - The Ruskin Museum, City of Sheffield. A popular illustr. handbook, 1911. Paul Clemen.