Schwitters, Kurt (eigtl. Curt Hermann Eduard Carl Julius; Pseud. Merz; Kuwitter; Dr. Gustav Pfister; Jumbo; Robert Lee; Baby Bitter; Peter Krüger; Winterbottom; Haase), dt. Maler, Collagist, Bildhauer, Zeichner, Schriftsteller, Typograf, *20.6.1887 Hannover, †8.1.1948 Kendal; lebt bis 1936 in Hannover, 1937-40 Lysaker b. Oslo, 1940/41 Flucht und Internierung in England, 1941-45 London, 1945-48 Ambleside.
Schwitters, Kurt
S. wächst in bürgerlichen Verhältnissen auf; er besucht das Realgymnasium; um 1904 entstehen erste Papierarbeiten. 1908/09 studiert er an der KGS Hannover, 1909-15 an der Kgl. Sächsischen AK in Dresden Malerei. Nach der Heirat 1915 mit Helma Fischer lebt und arbeitet er weiterhin im Haus der Eltern. Von März bis Juni 1917 dient er als Infanterie-Soldat und wird nach einer Untauglichkeitserklärung als Werkstattzeichner im Eisenwerk Wülfel zwangsverpflichtet. Er malt in einer zunehmend abstrahierenden Formensprache expressionistische Ölbilder. 1917/18 begegnet er dem Autor Christof Spengemann, der als Erster über ihn publiziert, und lernt die Künstlerin Käte Steinitz kennen. 1917/18 ist S. für ein Semester an der Kgl. TH in Hannover im Fach Archit. immatrikuliert. E. 1918 kommt es zu einem grundlegenden Wandel der künstlerischen Ausdrucksform, es entstehen erste Collagen. Ab 1919 nennt S. seine abstrakte, aus vorgefundenem (Abfall-)Mat. entstehende und gattungsüberschreitende Kunst "Merz". Der Begriff avanciert zum Synonym für seine Person und sein gesamtes Schaffen, das auch nach dem Schritt zur Abstraktion zeitlebens figurative Werke umfasst. 1918-25 stellt S. regelmäßig in der Gal. Der Sturm in Berlin aus und publiziert in der gleichnamigen Zeitschrift. Das 1919 veröff. Merzgedicht 1 An Anna Blume verschafft ihm den Ruf eines dadaistischen Dichters und macht ihn überregional bekannt. Als Künstler, Autor und Verleger steht S. seit E. des 1. WK in engem Austausch mit Künstlern der Dada-Bewegung in Zürich und Berlin (Tristan Tzara, Hans Arp, Raoul Hausmann, Hannah Höch) sowie ab 1921/22 mit dem De-Stijl-Künstler Theo van Doesburg, dem russ. Konstruktivisten Ėl' Lisickij sowie mit Walter Gropius und László Moholy-Nagy am Bauhaus. Im Sept. 1921 unternimmt er mit Hausmann die "Anti-Dada-Merz-Reise" nach Prag, währenddessen das Buchstabengedicht fmsbwtözäu die Entstehung der Ursonate initiiert, ein Lautgedicht, das S. 1926 seine "umfassendste und wichtigste dichterische Arbeit" nennt. A. der 1920er Jahre beginnt die "aus Prinzip" nie abgeschlossene Arbeit an der später Merzbau gen. skulpturalen Konstruktion in seinem Atelier (1943 zerst.), die als Vorläufer der Installationskunst gilt: eine begehbare Plastik, zunächst aus einzelnen "Säulen" bestehend, später eine in den Raum hineinwachsende Konstruktion aus Holz und Gips mit verborgenen "Grotten". 1923 unternimmt S. zus. mit Nelly und Theo van Doesburg und Vilmos Huszár den "Dada-Feldzug" in Holland. Er begegnet den DichterInnen Til Brugman und Antony Kok, dem Gestalter Piet Zwart sowie den Architekten Gerrit Rietveld und Jacobus Johannes Pieter Oud und setzt sich mit Archit. auseinander. Ab 1923 gibt S. die multimediale Avantgarde-Zs. "Merz" heraus. 1924 gründet er die Merz Werbezentrale und arbeitet auch als Typograf, u. a. 1929-34 für die Stadtverwaltung Hannover. Mit Steinitz gründet er den Aposs Verlag und publiziert u. a. das Märchenbuch Der Hahnepeter und das typografische Bilderbuch Die Scheuche. 1927 initiiert S. die Bildung der Gruppen "die abstrakten hannover" sowie "ring neue werbegestalter". Daneben ist er Mitgl. der "Soc. Anonyme" in New York und beteiligt sich an den Zss. "Doc. internat. de l'esprit nouveau", Paris, und "i 10. Internat. Rev.", Amsterdam. 1929 wird er Mitgl. der Künstlervereinigung "Cercle et Carré", 1931 von "Abstraction - Création" in Frankreich. S. agiert und publiziert internat., europaweit finden in den 1920er Jahren Ausst. und "Merzabende" mit Vorträgen seiner Gedichte und Prosatexte statt. Ab 1929 hält er sich jährlich in Norwegen auf. In der Folge weicht die Buntfarbigkeit der Werke einer stärker gebrochenen Farbpalette und einem pastoseren Farbauftrag; die Formensprache wird biomorph. Ab 1933 ist er als "entarteter" Künstler öff. diffamiert, seit 1935 werden seine Werke in dt. Mus. beschlagnahmt (u. a. Das Merzbild, 1919, Dresden, SM, verschollen). Er zieht sich in die innere Emigration zurück, 1937 kehrt er aufgrund der politischen Ereignisse nicht mehr aus Norwegen zurück. Helma bleibt in Hannover und organisiert den Transport wichtiger Werke nach Lysaker, wo die Arbeit an einem neuen Merzbau, dem Haus am Bakken beginnt (1951 verbrannt). Im Exil entstehen vermehrt Landschaftsbilder. Nach Einmarsch der dt. Truppen im April 1940 beginnt eine mehrwöchige Flucht nach England, wo er in versch. Lagern interniert ist, zuletzt für 17 Monate im Hutchinson Camp in Douglas auf der Isle of Man. Er malt Porträts von Mitinternierten, hält Vorträge und veröffentlicht in der Lagerzeitschrift. In London, wo er seine spätere Lebensgefährtin Edith Thomas trifft, entstehen zahlr. Assemblagen, Collagen und farbig gefasste Plastiken. Im Apr. 1944 erleidet er einen Schlaganfall, zwei Jahre später kommt es zu einem Zusammenbruch, verbunden mit einer mehrtägigen Erblindung. 1946/47 arbeitet er mit Raoul Hausmann an einer geplanten Zs. PIN. Im Juni 1947 wird ihm vom New Yorker MoMA ein Stip. zur Wiedererrichtung eines der Merzbauten gewährt: Er beginnt mit der Merz Barn auf der Cylinders Farm bei Elterwater. Am 17. Juli erleidet er einen Blutsturz, M. Dez. kommt er in das Krankenhaus von Kendal, wo er am 8. Jan. 1948 stirbt. Einen Tag zuvor erhält er die engl. Staatsbürgerschaft. Das Grab in Ambleside ist erhalten, seit der Überführung 1970 existiert ein weiteres in Hannover. S.s internat. Wiederentdeckung erfolgt ausgehend von den USA seit den 1950er Jahren. Als bildender wie als Sprach-Künstler zählt er zu den einflussreichsten Protagonisten der europ. Avantgarde in der 1. H. des 20. Jahrhunderts. Die Collage- und Materialkunst erlebt mit ihm einen ersten Höhepunkt. S.s aus Dada und Konstruktivismus resultierende Utopie des "Merz-Gesamtweltbildes", die unbeirrt von politischen Verhältnissen einen radikalen Autonomie- und Freiheitsanspruch vertritt, zielt auf die "Vereinigung von Kunst und Nichtkunst" (S.) und führt letztlich zur Aufhebung der Grenze zw. Kunst und Lebenspraxis.
Anna Blume. Dichtungen, Hn. 1919, 1922; K.S. (Sturm Bilderbücher, 4), B. s.a. [1920]; Memoiren Anna Blumes in Bleie. Eine leichtfaßliche Methode zur Erlernung des Wahnsinns für Jedermann, FiB. 1922; Elementar. Die Blume Anna. Die neue Anna Blume. Eine Gedichtsammlung aus den Jahren 1918-1922, B. 1923; Scherzo der Ursonate, Private Tonaufnahme "Vox"-Grammophonplatte, 1923; Anna Blume. Scherzo der Ursonate, Süddeutscher Rundfunk v. 5.5.1932; K.S. Wir spielen, bis uns der Tod abholt, ed. E.Nündel, Ffm. 1974 (Korr.); R. Merz, Hn. 1923-32, Reprint, ed. F.Lach, Bern/Ffm 1975.
Einzelausstellungen:
2007, '11 (Internat. Wander-Ausst.) Hannover, Sprengel Mus. (alle K) / 2009 Høvikodden, Henie Onstad Kunstsenter (K) / 2010 Houston, The Menil Coll. / 2011 Princeton, Univ. AM; Berkeley, AM (K) / 2013 London, Tate (K, Internat. Wander-Ausst.) / 2016 Zürich: Gal. Gmurzynska (K); Gal. Hauser & Wirth / 2019 Hannover, Sprengel-Mus. -
Gruppenausstellungen:
2006 Los Angeles, Hammer Mus.: The Soc. Anonyme (K, Wander-Ausst.) / 2007 Tokio, Nat. Art Center: Living in the Material World; Turin, GAM: Collages from Cubism to New Dada / 2012 Brüssel, Centre for FA: Per Kirkeby and the "Forbidden Paintings" of K.S. / 2013 München, Villa Stuck: Im Tempel des Ich / 2016 Mainz, Gutenberg-Mus.: Futura - Die Schrift; Zürich, Kunsthaus: Dadaglobe reconstructed (K, Internat. Wander-Ausst.) / 2017 Hannover, Sprengel Mus.: Hannover:revonnaH / 2024-25 Rolandseck, Arp Mus: der die DADA (K).
Thieme-Becker, Vollmer und AKL:
ThB30, 1936; Vo4, 1958
Weitere Lexika:
M.Seuphor (Ed.), Knaurs Lex. abstrakter Malerei, M. 1957; Lex. der Weltliteratur im 20. Jh., FiB 1961; ELU IV, 1966; SvKL V, 1967; Bénézit, 1976; Bauer, GEM VII, 1978; ContempArtists, 1983; EAPD, 1989; Windsor, 1992; DA XXVIII, 1996; I.F. Walther, Künstler-Lex., in: Kunst des 20. Jh., II, Köln u.a. 1998; R.Kostelanetz, A dict. of the Avant-Gardes, N.Y. 22000; Osterwalder, 1905-1965, 2005
Gedruckte Nachweise:
K.S. Das lit. Werk, ed. F.Lach, 5 Bde, Köln/M. 1973-81 (WV Lit.); C.Schelle, in: "Typographie kann unter Umständen Kunst sein" (K LM), Wb. 1990 (WV Typografie); K.S., I (manifestes théoriques & poétiques), ed. M.Dachy, P. 1994; J.Rothenberg/P.Joris (Ed.), K.S. Poems Performance Pieces Proses Plays Poetics, Ca. Mass 2002; K.Orchard/I.Schulz (Bearb.), K.S. Cat. raisonné, ed. Sprengel Mus. Hannover, 3 Bde, Ostfildern-Ruit 2001, 2003, 2006 (WV; Verz. aller Ausst. bis 2006; ausführliche Lit.); E.Fux, Schnitt durch die verkehrte Merzwelt (Aspekte der Avantgarde, 10), B. 2007; G.Webster, K.S.' Merzbau, Diss. Open Univ., Milton Keynes 2007; A.Notz/H.U. Obrist, Merz World, Z. 2007; Dada in the Coll. of the MoMA, (Studies in Modern Art, 9), N. Y. 2008; G.Webster (Ed.), The J. of the K.S. Soc., Aachen seit 2011; R.Cardinal/G.Webster, K.S., Ostfindern-Ruit 2011; C.Eckett, K.S. Zw. Geist und Materie, B. 2012; M.R. Luke, K.S. Space, Image, Exile, Chicago/Lo. 2014; K.S. Die Sammelkladden 1919-1923 (K.S. Alle Texte, 3), ed. U.Kocher/I.Schulz, B. 2014; K.Hellandsjø, Ultima Thule. K.S. and Norway, Oslo 2016; W.Delabar u.a. (Ed.), Transgression und Intermedialität. Die Texte von K.S. (Moderne-Studien, 20), Bielefeld 2016; J.Nantke, Ordnungsmuster im Werk von K.S. (spectrum Literaturwissenschaft, 59), B./Boston 2017; J.Restorff, Kunstforum Internat. 298:2024(Sept./Okt.)226-227.
Archive:
Künstlerischer und dok. Nachlass: Hannover, Sprengel Mus.
Onlinequellen:
Kurt und Ernst Schwitters Stiftung, Hannover; Kurt Schwitters Soc.; P.Kunzelmann, "... ich fordere die abstrakte Verwendung der Kritiker", Diss. Friedrich-Alexander-Univ. Erlangen-Nürnberg 2010.
Schwitters, Kurt, Maler, Gebrauchsgraphiker u. Schriftsteller, *20. 6. 1887 Hannover, Schüler von K. Bantzer, G. Kuehl u. E. Hegenbarth. Dreßler's Ksthandbuch, 1930/11. - H. Walden, Einblick in Kunst, 1924. - Der Cicerone, II (1919) 573/82. - Der Ararat, 2 (1921) 3/9 (Selbstbiogr.). - Degener, Wer ist's, 10. Aufl. 1935.
Schwitters, Kurt, dtsch. Maler, Reliefmodelleur, Graph., Schriftst. u. Dichter, *20. 6. 1887 Hannover, †8. 1. 1948 Ambleside, Engl. Stud. 1908/14 an d. Akad. in Dresden bei Bantzer, Hegenbarth u. Kuehl; anschließend 1 Jahr Studien in Berlin. 1915 Niederlassung in Hannover. Nach ersten akad. Anfängen folgt eine expression.-kubist. Periode. 1. Sonderausst. abstrakter Ölbilder 1918 in d. Gal. D. Sturm in Berlin. 1918 Einfluß Kandinskijs. 1919 erstes "Merz-Bild"; in dems. Jahr Koll.-Ausst. mit Klee u. Molzahn in d. Gal. D. Sturm Berlin. Viele Veröffentlichungen von Bildern, Gedichten, Prosawerken in d. Zeitschr. "Der Sturm" bis 1924. 1920 Zusammentreffen mit Hans Arp, 1922 mit Th. Doesburg. 1923 Beteiligung an d. Dada-Bewegung u. den Publikationen "Merz". 1926 in Holland. 1929 Beteiligung an d. Gr. Ausst.: Abstrakte u. surrealist. Malerei u. Plastik, im Ksthaus Zürich. 1930 erster Besuch Norwegens. 1932 Mitgl. d. Gruppe Abstraction-Creation. 1933 Übersiedlung nach d. Insel Molde, Westnorwegen. 1936 Beteiligung an d. Ausst. Cubism and Abstract Art im Mus. of Mod. Art New York, 1937 Übersiedlung nach Lysaker bei Oslo, in dems. Jahr Beschlagnahme s. Werke in dtsch. Museen. 1938 vertreten in d. Ausst. Modern German Art in d. Tate Gall. London. 1940 Flucht nach England; 17 Monate interniert. 1941 Niederlassung in London. 1944/45 Sonderausst. in d. Mod. Art Gall. in London. Vertreten im Mus. of Mod. Art in New York (23 Collages [Klebebilder] u. 15 Drucke). Gedächtn.-Ausst.: 1950 in d. London Gall. in London, 1952 in d. Janis Gall. in New York, 1954 in d. Gal. Berggruen in Paris, 1956 in d. Ksthalle Bern (zus. mit Arp) u. in d. Kestner-Gesellsch. Hannover (ill. Kat.). Der Hauptteil s. Nachlasses bei Ernst Schwitters in Oslo. Lit.: Th.-B., 30 (1936). - Barr, m. Abb. u. Lit.-Ang. - Einstein. - Giedion-Welcker. - Haftmann. - L. Schreyer, Erinnergn an Sturm u. Bauhaus, 1956, p. 115 ff. - Baukst u. Werkform, 9 (1956) 282/84, m. Abb. - Graphis (Zürich), II (1955) 54 (Abb.), 55, m. Abb. - bild. kst (Berlin), 2 (1948) 3, p. 24. - D. Kstblatt, 5 (1921) 156; 14 (1930) 70, m. Abb. - D. Kstwerk (Baden-Baden), 7 (1953-54) H. 3/4, farb. Taf. geg. p. 26, 27/30, m. Abb., 32-35, m. Abb.; II (1957/58) H. 7, p. 15, m. Abb., 22 ff. (Abbn), 37f., m. Abb. u. farb. Taf. - The Studio, 129 (1945) 90. - D. Sturm, 1954, p 182f. (Abbn), farb. Tat geg. p. 256. - D. Werk (Zürich), 43 (1956) 153-59,m.9 Abbn, Beil. p. 102f. - Frankfurter Allgem., 20. 2. 56, m. Abb. - D. Welt (Berlin), 14.2. 56. - Tagesspiegel (Berlin), 22. 2. 56. - Süddtsche Ztg (München), 18. 2. 56, m. Abb. - The Art Index (New York), 1929ff. passim. - Ausst.-Kat.: "documenta", Kassel 1955, m. Abb.; Ausgewanderte Maler, Städt. Mus. Morsbroich Leverkusen 1955.