Louis, Séraphine, frz. Malerin, *3.9.1864 Arsy (Dept. Oise), †11.12.1942 Clermont de l'Oise.
Louis, Séraphine
Autodidaktin. 1865 Tod der Mutter, 1871 Tod des Vaters. Mit 13 Jahren Dienstmädchen in Paris, danach drei Jahre als Zimmermädchen und Küchenhilfe in Compiègne. Ab 1881 etwa 20 Jahre lang Dienerin (viell. auch Laienschwester) in der Kongregation der Schwestern des Couvent de la Charité de la Providence in Clermont. Danach (vermutlich ab 1901) Tätigkeit als Putzfrau bei wechselnden Dienstherren. Seit 1903 oder 1904 in Senlis. Sie beginnt 1905 zu malen. Als Malgründe benutzt sie neben Papier Vasen, Flaschen, Teller. Einige dieser Gefäße sind erhalten (Sahnetöpfchen mit Blumenmotiven, Senlis, Mus. d'Art et d'Archeól.). Das erste erh. Wasserfarbenbild Blumen in einem Korb (um 1910, ebd.) schenkt sie der Fam. Duflos, für die sie als Aufwartefrau arbeitet. Der Sohn hatte ihr seinen Malkasten zur Verfügung gestellt. Seit ca. 1906 lebt sie in einer eig. Wohnung in der Rue du Puits Tiphaine. Sie hält engen Kontakt zu den Senliser Klosterschwestern der Kongregation von St-Joseph de Cluny. - L. malt bevorzugt mit synthetischer Lackfarbe (Ripolin), die sie in einer Drogerie in Senlis kauft. 1912 mietet der in Paris tätige Kunsthändler, Kunstsammler und Kunstliterat Wilhelm Uhde eine kleine Wohnung in Senlis. Auf ein Apfelstillleben aufmerksam geworden, erfährt er, dass es ein Werk seiner Aufwartefrau L. ist. Er kauft mehrere ihrer Bilder. Spätestens nach der durch den Kriegsbeginn erzwungenen Rückkehr Uhdes nach Deutschland bricht der Kontakt mit L. ab. Bis M.der 1920er Jahre bemalt L. zumeist kleinformatige Holztafeln, bevorzugt mit Blumenmotiven und Früchten (Granatäpfel auf blauem Grund, um 1915; Schwarze Johannisbeeren, um 1915, beide Senlis, Mus. d'Art et d'Archeól.; Blumen auf blauem Grund, um 1920, Bönnigheim, Mus. Charlotte Zander). Der Bildaufbau orientiert sich auch an Ill. in botanischen Handbüchern. Um 1920 beginnt sie, Blumenstillleben mit einem palmenähnlichen Stamm zu kombinieren - angeregt vermutlich durch Berichte von der Missionsarbeit der Ordensschwestern von St-Joseph de Cluny auf den Antillen (Blumen, um 1922, Genf, Petit Pal.). Lokale Sammler erwerben einige ihrer Bilder, viele verschenkt sie an Bekannte. Sie steht in losem Kontakt zu lokalen Künstlern (Albert Guillaume, Charles Hallo). 1927 regt die von Charles Lindbergh kurz vor der Landung nach dem ersten Alleinflug über den Atlantik abgeworfene amer. Fahne L. zu Fahnenbildern an: Die amerikanische Fahne, Die amerikanische und die französische Fahne (beide 1927). Auf der Ausst. im Okt. 1927 der Soc. des Amis des Art in Senlis ist L. mit sechs Gem. vertreten (Weintrauben; Fliederstrauß in schwarzer Vase, beide Priv.-Slg), die in der Pariser Presse Resonanz finden. Uhde (1924 aus Deutschland nach Paris zurückgekehrt, jetzt mit Wohnsitz in Paris und Chantilly) besucht daraufhin die Ausstellung. In der Folge versorgt er L. mit Lw. und Ölfarben, unterstützt sie finanziell, sammelt und vermarktet ihre Bilder. Obwohl ihr dank Uhde jetzt Künstler-Ölfarben zur Verfügung stehen, malt sie weiterhin bevorzugt mit Ripolin (gewöhnlich weißes Ripolin, gefärbt mit "colorants"). Sie malt ohne Staffelei, skizziert das Motiv zuerst mit stark verdünnter Farbe und signiert bereits in diesem Stadium. Es kann eine zweite Sign. hinzukommen, die oft in die Darst. integriert ist. Die ab 1927 auch größerformatigen Bilder auf Lw. zeigen fantastische Bäume mit Blättern, Blüten und Früchten, die in der Regel botanisch nicht bestimmbar sind und in ihrer Realität changieren können - von Blättern zu Blüten werden, von Früchten zu abstrakten Ripolin-Punkten und vice versa (Granatäpfel auf grünem Grund, 1930, Nizza, Mus. Internat. d'Art Naïf Anatole Jakovsky; Kirschen, um 1930, Bönnigheim, Mus. Charlotte Zander). Selbst in Stillleben können sich die Vasen in Vegetabilisches verwandeln (Mimosenstrauß, um 1929, Laval, Mus. du Vieux-Château; Blätterstrauß, um 1930, Paris, Mus. Maillol). Mit den bizarren Stillleben und Bäumen imaginiert L. die "Bäume des Lebens" im "Himmlischen Jerusalem", das nach dem Weltuntergang die Gerechten bewohnen werden (Weintrauben, um 1928, Paris, Mus. Maillol; Baum des Lebens, 1928, Senlis, Mus. d'Art et d'Archéol.; Die blaue Séraphine, um 1930, Hamburg, KH). Höhepunkt ihres Œuvres sind die fünf jeweils fast zwei Meter hohen "Riesenbilder" (Uhde) (Baum des Lebens, um 1928; Äpfel, 1929/1930, beide New York, MAM; Der rote Baum, 1928, Paris, Centre Pompidou; Paradiesbaum, 1929/1930; Die großen Margeriten, 1929/1930, beide Senlis, Mus. d'Art et d'Archéol.). Mit der Begründung, die Weltwirtschaftskrise habe seine finanziellen Möglichkeiten erschöpft, stellt Uhde 1930 seine Unterstützung von L. ein. L. malt wieder kleinere Formate, nutzt weiter vorgefundene Holztäfelchen und Pappe; Zchngn und Pinselführung werden zunehmend freier und fahriger (Disteln, um 1930/1931, Senlis, Mus. d'Art et d'Archéol.; Blumenstrauß, um 1930/1931, Villeneuve d'Ascq, MAM). Sie wird von Wahnfantasien verfolgt. Im Jan. 1932 Einweisung in das Hospital von Senlis, schließlich im Feb.1932 in die psychiatrische Anstalt von Clermont de l'Oise, wo sie bis zu ihrem Tod (Brustkrebs) lebt.
Einzelausstellungen:
1945 Paris, Gal. de France / 1972 Senlis, Ancienne Abbaye Saint-Vinvent / 1998 Nizza, Mus. Intérnat. d’Art Naïf Anatole Jakovsky (mit Aloïse und Bois-Vives) / 2005 Düsseldorf, Mus. für Europ. Gartenkunst / 2008 Paris, Mus. Maillol / 2014 Senlis, Mus. d'Art et Archeól. -
Gruppenausstellungen:
1927 Senlis, Hôtel de Ville / Kassel: 1955 documenta; 2021-22 MHK, Schloss Wilhelmshöhe: ein atelier für sich allein - Künstlerinnen von Rachel Ruysch bis Emy Roeder (Begleitheft) / 2022 Baden-Baden, Mus. Frieder Burda; Die Maler des hl. Herzens.
Thieme-Becker, Vollmer und AKL:
Vo3, 1956; Vo4, 1958
Weitere Lexika:
Pavière, Flower III, 1964; ELU IV, 1966; Jakovsky, 1976; Bauer, GEM VII, 1978; DA XXVIII, 1996; I.F. Walther, Künstler-Lex., in: Kunst des 20. Jh., II, Köln u.a. 1998; Delarge, 2001
Gedruckte Nachweise:
W.Uhde, Fünf primitive Meister, Z. 1947 (frz.: 1949); J.-P.Foucher, Séraphine de Senlis, P. 1968; A.Schweers, in: S.Duda/L.F.Pusch (Ed.), WahnsinnsFrauen, Bd 2, Ffm. 1996, 39-70; F.Cloarec, Séraphine, La vie rêvée de Séraphine de Senlis, P. 2008; A.Vircondelet, Séraphine de Senlis, P. 22008; H.Körner/M.Wilkens, S.L. 1864-1942, B. 2009 (Biogr. und WV)
Onlinequellen:
Dict. universel des Créatrices, 2024
Louis, Séraphine, gen. Séraphine, franz. Malerin (Dilettantin), *1864 Assy, †1934 Senlis.
Séraphine, eigentl. Louis, Séraphine, franz. Sonntagsmalerin, *2. 9. 1864 Assy (Oise), †11. 12. 1942 (nicht 1934) im Asyl in Clermont, siehe Louis, Séraphine. Lit.: s. Louis. Dazu: Bénézit, 7, m. Taf. geg. p. 624. - W. Uhde, 5 primitive Meister, Zürich 1947. - Malerei d. Abendlandes, Berlin-Grunew. [1955], P, 196. - Formes, 17 (1931) 115/17, m. 4 Abbn. - D. Kst u. d. schöne Heim, 47 (1949) 226 (Abb.). - Ausst.-Kat.: "documenta", Kassel 1955, m. Abb.; 120 Meisterwerke d. Mus. d'Art Mod. Paris, Akad. d. Kste Berlin 1956, m. Abb.