Kertész, André (Andor), ungar.-amer. Fotokünstler, *2.7.1894 Budapest, †28.9.1985 New York.
Kertész, André
K. verbrachte seine Kindheit z.T. bei Verwandten in Szigetbecse, da sein Vater früh verstorben war und seine Mutter im eig. Café arbeitete. Dort blätterte er oft auf dem Dachboden in alten dt. illustrierten Fam.-Bll. wie der Gartenlaube. Schon damals hatte er vor, ähnliche Bilder zu schaffen, und sah von dieser Zeit an die Dinge so, wie er später fotografierte. Die Nähe zur Natur und den Leuten in Szigetbecse prägten sein ganzes Schaffen, und wie er immer wieder äußerte, sind die Lsch. und die Gestalten von dort in jedem seiner Bilder neu entstanden. Ausb.: 1907-12 Handelsoberschule in Budapest. Danach Korrespondent in der Budapester Börse. Ausz.: 1965 Preis der Amer. Soc. of Mag. Photographers; 1974 Guggenheim-Preis; 1976 Preis der Stadt New York; Ordre des Arts et des Lettres, Paris; 1982 Grand Prix nat. de la photogr., Paris; 1983 L'ordre nat. de la Légion d'honneur; 1984 Preis des NM of Photogr., Film and Television, Bradford. Kaufte 1912 von seinem ersten Gehalt eine ICA-Plattenkamera, erlernte damit das Fotografieren als Autodidakt. Beim Entwickeln half ihm sein Freund László Chmura. 1914 meldete er sich freiwillig zum Kriegsdienst und wurde Fahnenträger im 26. Infanterieregiment der k.k. Armee an der poln. und russ. Front. Machte Momentaufnahmen auf Glasnegativen, z.B. das Bild Erőltetett menet/Eilmarsch vom 19.7.1915 in Galizien. Da sich K. auf die feinen Nuancen des menschlichen Erlebens konzentrierte, sparte er politische und nationalistische Gefühle aus. Sein Bild vom 12.8.1915, auf dem er sich selbst beim Entlausen hinter dem Schützengraben darstellt, wurde im Wettb. des Witz-Bl. Borsszem Jankó ausgezeichnet. Kurz darauf erlitt er einen Brustschuss. Auch während der Behandlung in den Krankenhäusern von Budapest und Esztergom fotografierte er. Da K. nie mehr ganz gesund wurde, konnte er nicht an die Front zurückkehren, diente bei Transporten nach Galizien, Böhmen, Serbien, Albanien und Rumänien, hielt Momente des Alltags fest. Zuerst erschienen seine Bilder 1917 in der Ztg Érdekes Újság. Ab 1919 Tätigkeit im Budapester Giro- und Kassenverein. Mit seiner Plattenkamera Goerz Tenax 4,5x6, die er auch an der Front eingesetzt hatte, hielt er die Dorfansicht von Budafok von oben (1919) fest, die mit der Komp. von Linie und Masse und der Ausgeglichenheit der Töne als ein klassisches Beispiel der mod. Fotogr. gilt. 1925 geht K. nach Paris, ohne Fotografen-Ausb., ohne sich mit zeitgen. Fotografen beschäftigt zu haben und ohne Beziehungen. Widmete sich ganz der Fotogr., lebte von Reportagefotos; seine während seiner Stadtwanderungen entstandenen Bilder sind jedoch Ergebnis von absichtslosen Beobachtungen. Da er noch kein Französisch konnte, lebte er anfangs v.a. im Kreis der ungar. Emigranten. Es war der Maler Lajos Tihanyi, der ihn mit der Pariser Kunstwelt bekannt machte (u.a. Brassaï, der unter dem Einfluss von K. zu fotografieren begann; József Csáky, Etienne Beothy, Béla Czóbel, Ilka Révai, Sigismond Koloszváry, Ernö Goldfinger, Marcel Vertès, Marc Chagall, Piet Mondrian, Sergej Michajlovič Ėjzenštejn, Tristan Tzara, Michel Seuphor). Neben den Künstlerfreunden fotografierte er auch den Politiker Mihály Károlyi und seine Frau, den Geiger Ferenc Roth, die Pianisten Tibor Harsányi, Paul Arma und das Marionettentheater Arc-en-Ciel. Seine Porträts entstanden bei natürlichem Licht und im gewohnten Milieu der Dargestellten, nie karikierend, sondern den Menschen zugewandt und mit großer Akzeptanz. Zu dieser Zeit erschienen K.s klassische Stillleben, in denen er mit manchen Gegenständen die Persönlichkeit seiner Besitzer charakterisiert (Mondrians Pfeife und Gläser; Chez Mondrian, beide 1926). Seine erste Fotoreportage (Dôme) wurde 1926 von der Frankfurter Illustrierten Ztg publiziert. K. schickte auch Bilder nach Ungarn, so erschien das Bild Satirische Tänzerin [Magda Förstner] als Beilage der Zs. Magyar Fotográfia (Juni 1928). Daneben erschienen seine Bilder in der Berliner Illustrierten Ztg und der Leipziger Illustrierten Ztg; war 1928 mit dem Chefredakteur der Münchener Illustrierten Presse, Stefan Lorant, befreundet, der auch in seinen Londoner Jahren ab 1934 die Werke von K. in den Zss. Illustrated Weekly, Liliput und Picture Post veröffentlichte. K.s erste Ausst. 1927 wurde in der Gal. Au Sacre du Printemps eröffnet, gleichzeitig mit einem von Jean Slivinsky veranstalteten ersten Lit.- und Musik-Abend "Esprit Nouveau". Seine hier gezeigten, von Einfachheit und Unverfälschtheit gekennzeichneten Bilder brachten ihm Anerkennung und bestimmten seinen Stil für das nächste halbe Jahrhundert. Aus den Pariser Bildern wurden vier Bde hrsg. (Enfants, Einl. von Jaboune, 1933; Paris vu par André Kertész, Text von Pierre Mac Orlan, 1933; Nos amis les bêtes, Text von Jaboune, 1936; Les cathédrales du vin, Text von Pierre Hamp, 1937). Fertigte 1933-34 Aufnahmen von den Schauplätzen des Dichters Endre Ady, zur Ill. der Monogr. von György Bölöni (Az igazi Ady, P. 1934). Seit den Budapester Fotos von Gestalten, die in der Schwimmhalle unter Wasser deformiert erschienen, interessierte K. die verzerrte Darst. des Körpers. Fertigte 1933 im Auftrag des Mag. Le Sourire die R. Distortions von grotesken Aktbildern. 1928 erwarb er eine Leica-Kamera, die ihm größere Freiheit verschaffte. Im Jahr 1929 Heirat mit der Malerin Rogi André, aber Trennung bereits nach ihrem Besuch in Ungarn 1930. K. lebte dann mit Erzsébet Sali zus., mit der er sich noch vor seiner Emigration verlobt hatte. Mit ihr reiste er 1936 wegen der antisemitistischen Stimmung und auf Aufforderung der Agentur Keystone in die Vereinigten Staaten, zunächst nur für ein Jahr; er sollte aber nie mehr nach Europa zurückkehren. Arbeitete zunächst für ein Reklamestudio. Während des 2.WK galt K. als Bürger eines feindlichen Staates und durfte auf der Straße nicht fotografieren. Ein Album aus seinen Pariser Fotos erschien 1945 (Day of Paris, Ed. G.Davis, N.Y.). Fotografierte 1949-62 für das Mag. House & Garden die Wohnungen von berühmten Persönlichkeiten; diese Fotos verwendete er jedoch nie in seinen Büchern oder Ausstellungen. Arbeitete danach für die Zss. Harper's Bazaar, Vogue, Town and Country, Amer. Mag., Collier's, Coronet, Look. 1952 Umzug in die Wohnung an der Fifth Avenue 2, wo er bis zum Tode wohnte. Der Blick aus seinem Fenster bildete ein wichtiges Element seines Schaffens, das den Washington Square, Greenwich Village und die umliegenden Dachgärten verewigte. Seine Bilder erschienen mit einem Text von in der Schweizer Zs. Camera (April 1963), den wahren Durchbruch bedeutete aber 1963 der Großpreis der Bienn. für Fotogr. in Venedig. Dank der Presseberichte danach fand man die vor dem Krieg in Paris zurückgelassenen und verloren geglaubten Negative, darunter auch in Ungarn hergestellte Glas- und Nitratnegative. Dieser Preis führte u.a. auch zu seiner ersten Ausst. in den Vereinigten Staaten. Nach vielen Misserfolgen und Enttäuschungen begann man nun, ihn in Amerika zu schätzen. Die Ausst. und das zu diesem Anlass hrsg. Album (A.K. Photographer, Text von John Szarkowski, N.Y. 1964) brachten ihm Weltruhm. In den 1970er Jahren wurde eine R. von Bildbänden seiner Fotos hrsg. (A.K.: Sixty Years of Photography 1912-72, 1972; J'aime Paris. Photographs from the twenties, 1974; Washington Square, 1975; Of New York, 1976; Distortions, 1976; Landscapes; Americana; Birds; Portraits, 1979; alle ed. von N.Ducrot, N.Y.). Widmete ein Album dem Thema des Lesens (On Reading, N.Y. 1971). Nach dem Tod seiner Frau 1977 verließ K. seine Wohnung nur noch selten. Er fotografierte mit einer Polaroid-Kamera die Gegenstände in seinem Umfeld und den jeweiligen Lichteinfall, nach Erinnerungen forschend, und widmete die R. dem Andenken seiner Frau (From my Window, Einl. P.McGill, Boston 1981). Die größte Zusammenstellung seiner in Ungarn entstandenen Bilder erschien im Album Hungarian Memories (Text H.Kramer, Boston 1982). Nach K. wurde ein Himmelskörper benannt, den Krisztián Sárneczky im Jahr 2002 entdeckt hatte.
Einzelausstellungen:
2000 Lugano, Gall. Gottardo / Berlin: 2008 Gal. Berinson; 2011 Martin-Gropius-Bau (K). -
Gruppenausstellungen:
2010 Winterthur, Foto-Mus.: Subversion der Bilder / 2023 Berlin, Jüdisches Mus.: Paris Magnétique 1905-1940 (K).
Weitere Lexika:
Krichbaum, 1981; C.Naggar, Dict. des photographes, P. 1982; Falk, 1985; DA VIII, 1996; I.F. Walther, Künstler-Lex., in: Kunst des 20. Jh., II, Köln u.a. 1998; KMML II, 2000; Dict. mondial de la photogr., P. 2001; H.-M. Koetzle, Das Lex. der Fotografen, M. 2002; R.Mißelbeck (Ed.), Prestel-Lex. der Fotografen, M. u.a. 2002; R.Lenman (Ed.), The Oxford companion to the photograph, Ox./N.Y. 2005.
Gedruckte Nachweise:
Tisztelet a szülőföldnek (K KH), Bp. 1982; Designers internat. index, I, Lo. u.a. 1991; A.Lionel-Marie, Coll. de photogr. du MNAM 1905-1948 (K), P. 1996; M.Frizot (Ed.), Neue Gesch. der Fotogr., Köln 1998; P.Baum, Ungarn. Avantgarde im 20. Jh. (K), Linz 1998; K.Kincses, Fotografi made in Hungary, Mi. 1998; T.Mulligan/D.Wooters (Ed.), Gesch. der Photogr. 1839 bis heute, George Eastman House Rochester, NY, Köln u. a. 2000; B.von Dewitz (Ed.), Kiosk. Eine Gesch. der Fotoreportage 1839-1973 (K Köln), Göttingen 2001; Arles & la photogr. Portr. de la coll. du mus. Réattu (K), Arles 2002; A.Laabs/U.J. Gellner (Ed.), Paris des photographes (K), Magdeburg 2004; Broken glass (K Heerlen), Köln 2005; W.Naef, Photographers of genius at the Getty (K), L.A. 2004; Wilhelmi, 2006; Q.Bajac/C.Cheroux (Ed.), Coll. photographs (K MNAM Paris), Göttingen 2007; M.S. Witkovsky, Foto. Modernity in Central Europe, 1918-1945 (K Wander-Ausst.), N.Y. 2007; H.Arnhold (Ed.), Orte der Sehnsucht. Mit Künstlern auf Reisen (K Münster), Rb. 2008