Kawara, On, jap. Maler, Zeichner, Konzeptkünstler, *24.12.1932 Kariya/Präf. Aichi, lebt seit 1965 in New York City.
Kawara, On (1932)
Nach dem Schulabschluss 1951 Umzug nach Tokio. 1959-62 Aufenthalt in Mexiko, 1963-64 Aufenthalt in Europa, v.a. in Paris. Als Künstler Autodidakt. – K.s malerisches und zeichnerisches Frühwerk ist von den Folgen der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki sowie von der damaligen Bedrohung durch den Koreakrieg geprägt. So zeigt sein Gem. Thinking Man aus dem Jahr 1952 einen violetten, pockenübersäten Akt, der in einem grauen, zellenartigen Innenraum neben einem Napf steht. Alle Konturen sind mit feinen, nadelartigen Querstrichen konterkariert. Dasselbe gilt für die 28 bzw. 31 Bll. umfassenden Ser. The Bathroom und Events in a Warehouse, die K. 1953-54 in Bleistift zeichnete. Hier sind es Schwangere, Verstümmelte und einzelne Gliedmaße, die komplett gekachelte Badezimmer bevölkern oder verloren einem Maschinenorganismus aus Röhren gegenüberstehen. Oftmals sind die Figuren so angeordnet, dass die Bilder gleichwertig von jeder Seite aus zu betrachten sind und somit ein Chaos in schwerelosen Räumen veranschaulichen, oder die Bildränder sind, wie sonst für Holzschnitte typisch, unregelmäßig geformt und verweigern so eine innerbildliche Orientierung. Indem K. seine Formen dem Kubismus etwa Fernand Légers entlehnte, den Figuren keine spezifisch ethnischen Gesichtszüge verlieh und Stereotypen des Comics anwandte, verweist die Absurdität des Gezeigten auch auf eine allg., weltweite Krisenhaftigkeit, deren philosophische Reflexion K. durch die Veröffentlichungen existentialistischer Theorien in Japan rezipierte. Als Mitgl. der Artists' Discussion Group standen K.s Werke in engem Zusammenhang mit denjenigen von Tatsuo Ikeda oder Shigeo Ishii, die ebenfalls surreal-technoide Drohszenarien darstellten. So entwickelte die Gruppe den gesellschaftskritischen Realismus der avantgardistischen Künstlervereinigung Zen'ei Bijitsu-kai der späten 1940er Jahre um Iri Maruki und Kikuji Yamashita weiter. Das Verlassen seines Heimatlandes, das folgende Nomadentum und die langjährige Unterbrechung seines Schaffens werden auch als Zweifel an der sozialen Rolle des Künstlers und den trad. Medien der bild. Kunst verständlich. Ab 1964 wandte sich K. stärker konzeptuellen Ansätzen zu, die Rollen und Verfahren der Massenkommunikationsmedien in den Fokus rücken. So zeichnete K. das Werk 1964 Paris – New York, dessen 196 lose Bll. er je in einer der beiden Städte fertigte und die, gesammelt in einer Schachtel, das notwendige Leichtgewicht von Reisegepäck besitzen. Danach entstanden Buntstiftzeichnungen, welche die Konventionen von Schriftzeichen unterwandern, indem K. Vordrucke von Liebesbriefentwürfen in eine nur von ihm lesbare Geheimschrift aus stenografie-artigen Zeichen übersetzte (Codes, 1965). Im gleichen Jahr malte K. das großformatige Triptychon Title, dessen roten Grund er mit den Worten "ONE THING", "1965" und "VIET-NAM" beschriftete, sowie eine schwarze Leinwand mit den Angaben eines Längen- und Breitengrads, deren Schnittpunkte einen unbewohnten Ort in der Sahara markieren (Location). Die weißen Schriftzeichen dieser Gem. auf farbig monochromen Grund führten zu K.s größter und bekanntester Werkgruppe: Am 4. Januar 1966 entstand sein erstes Date Painting. Als Bestandteil der seitdem in unregelmäßigen Abständen wachsenden Today-Serie von mittlerweile über 2000 Gem. wird das einzelne Werk jeweils von K. in der Sprache und der Datumskonvention des Ortes bezeichnet, an dem er sich am entsprechenden Tag aufhält. Die Daten sind jeweils mittig in unterschiedlichen, jedoch stets serifenlosen Schrifttypen auf den zumeist kleinformatigen Lw. platziert. Sollte er mit einem Date Painting begonnen und es bis Mitternacht nicht vollendet haben, vernichtet er es. Begleitet werden die Gem. zumeist von einer Pappschachtel und einem gleichformatigen Ausschnitt aus einer Lokalzeitung. Daneben entstanden die Journals, in denen K. per Schreibmaschine jedes Gem. mit einer Nummer, dem Datum und einer als Untertitel fungierenden Überschrift aus der Ztg registriert. Die Today-Serie überführte er auch ins Medium der Zchng, indem er auf großformatigen Kalender-Bll., auf denen alle Tage des 20. Jahrhunderts eingetragen sind, zum einen jeden Tag seines Lebens und zum anderen diejenigen Tage, an denen er ein Date Painting vollendet hat, mit einem Farbpunkt markierte (100 Years Calendar). Parallel begann K. von ihm gelesene Zeitungsartikel zu sammeln und in Ordner zu heften (I Read, 1966-95). Dasselbe tat er zwei Jahre später mit der Schreibmaschinenabschrift der Namen von Personen, die er getroffen hatte (I Met, 1968-79), sowie mit Ausschnitten aus Stadtplänen und Landkarten, auf die er in Rot seinen Tagesweg einzeichnete (I Went, 1968-79). Mit seiner Ser. von ab 1968 versendeten Postkarten, auf die er die Zeit seines Aufstehens stempelte (I Got Up), und mit seinen Telegrammen, die ab 1970 lediglich die titelgebende Zeile I Am Still Alive zu lesen geben, zählt er zu den Mitbegründern der Mail Art. Die Adressaten dieser Sendungen waren Mitgl. des internat. Kunstbetriebs, der sich Ende der 1960er Jahre für konzeptuelle Werkauffassungen zu interessieren begann. 1969 realisierte K. One Million Years (Past), eine Auflistung von hundert Millionen Jahreszahlen bis ins die damalige Gegenwart. Das Werk besteht aus zehn Ordnern, die jeweils hunderttausend Jahre enthalten und sich in Doppelseiten mit je einem Jahrtausend gliedern. Das Pendant One Million Years (Future) schuf K., beginnend mit seinem Entstehungsjahr 1980, nach demselben Prinzip und in derselben Form. In der Folge wurde die Bezugnahme auf bereits vorhandene Werke in Form anderen Medien zum Kennzeichen von K.s Vorgehen. So ließ K. 1995 für die Loseblattsammlung Six Sens seine 30 Jahre alten Codes in Brailleschrift prägen. Dieserart Übersetzung entsprechend bestand K.s Beitrag für die documenta 2002 aus einer Lesung seines Werks One Million Years (Past and Future), die jeweils eine Frau und ein Mann in einem Glaskasten sitzend abwechselnd durchführten. Mittels der Audio-Aufnahme dieser Lesung transformierte K. die Bücher, die er A. und E. der 1970er Jahre gefertigt hatte, in das zeitgen. Medium der Compact Disc. Zudem fügt sich das Kuratieren von Ausst. in dieses Konzept, indem K. gemeinsam mit den jeweiligen Institutionen seine Date Paintings mit den Werken anderer Kunstschaffender kombinierte (Again and Against, 1989-90) oder sie weltweit in Kindergärten präsentierte (Pure Consciousness, 1998-2000) – K. nimmt innerhalb der Konzeptkunst insofern eine Sonderposition ein, als es ihm zwar um die Betonung des Immateriellen gegenüber dem Materiellen des Kunstwerks geht, er allerdings auf die Qualität der eigenen handwerklichen Ausführung und deren mediale Transformationen gesteigerten Wert legt. Thema ist dabei die Zeit, ihre Wahrnehmbarkeit und somit ihre Beziehung zwischen dem Individuellen und dem Kollektiven, dem Besonderen und Allgemeinen. K.s Biografie ist seinen jap. Wurzeln, seinen Reisen und der Niederlassung in New York zu einer Zeit, in der die Conceptual Art dort in ihren Anfängen lag, geprägt. Seine Biografie und ebenso jedes fotografische Porträt seiner Person hält er weitestgehend im Verborgenen. Er hinterfragt somit eine Fokussierung auf das Künstlerselbst als Motiv der Interpretation und lenkt den Blick von persönlichem Zeitempfinden und privater Anekdotenhaftigkeit auf die öff. und auch metaphysischen Bestimmungen von Temporalität. Fast alle seine Werke besitzen einen Seriencharakter, der einerseits durch eine Akribie und z. T. auch Manie, andererseits durch die eig. künstlerische Handarbeit über denjenigen der Minimal Art hinausgeht. Sie behandeln wie beinhalten die Abhängigkeit von Zeit als Material. Dass K. seine Werke in wechselnden Medien realisiert, zeugt sowohl von deren Veränderbarkeit und damit deren Relativität als auch von einer – für die Konzeptkunst typischen – Abkehr von trad. Werkbegriffen.
I Went, I Met, I Read, Journal 1969, Köln 1992; One Million Years, Brüssel 1999; I Met, Brüssel 2004; I Went, Brüssel 2007; I Got Up, Brüssel 2008.
Einzelausstellungen:
Tokio: 1952 Café Black; 1954 Hibiya Gall.; 1954, '56 Takemiya Gall.; 1991 Parco Gall. (K) / 1961 Mexiko: Salon de la Plastica Mexicana; 1962 Gal. Proteo / Düsseldorf: 1971, '72 Gal. Konrad Fischer / Paris: 1971 Gal. Yvonne Lambert; 1977 MNDM (K) / 1971 Mailand, Gal. Toselli / Brüssel: 1972 Gal. Paul Maenz; 1975 Pal. des BA (K) / 1972 Halifax, Nova Scottia Coll. of Art and Design; London, Situation; Turin, Gian Enzo Sperone / 1974 Basel, KH (K: J. Gachnang/R. Denizot/K. König) / New York: 1976 Sperone Westwater Fischer; 1993 Dia Center for the Arts (K: L. Cooke); 2001 (CDs), '12 (K) David Zwirner Gall. / Berlin: 1976 Gal. René Block; 1987 DAAD (K) / 1977 Los Angeles, Otis Art Inst. Gall. (K: L. Lippard) / 1980 Stockholm, Mod. Mus. (Wander-Aust.; K) 1985 Dijon, Le Consortium (K) / Frankfurt am Main: 1989 Portikus (Wander-Ausst.; K); 1994 MMK (K: J.-C. Ammann/M. Kramer) / 1991 Rotterdam, BvB (Wander-Ausst.; K); / 1993 Bordeaux, MAC (K: J.L. Froment) / 1995 Köln, KV (K: T. Hiraide) / 1996 Villeurbanne, Nouveau Mus., Inst. d’Art Cont. (Wander-Ausst.; K) /1997 St. Gallen, KV (K: R. Wäspe) / 2000 München, Lenbachhaus (Wander-Ausst.; K: U. Wilmes/M. Butor) / 2002 Birmingham, Ikon Gall. (Wander-Ausst.; K) / 2007 Toronto, Ossington Old Orchard Public School (K) / 2008 Dallas Mus. of Art (K); Seoul, doArt (K) / 2015 New York, Guggenheim Mus.
Gruppenausstellungen:
New York: 1970 MMA: Information (K); 1971 Guggenheim: Guggenheim Intern. Exhib. (K) / 1971 Arnhem: Soonsbeek 71 (K) / 1972, '82, 2002 Kassel: documenta / 1976 Venedig: Bienn. / 1989 Paris, Centre Pompidou: Les Magiciens de la Terre / 2016-17 München, Haus der Kunst: Postwar - Kunst zw. Pazifik und Atlantik 1945-1965 (K) / 2021-22 Hamburg, KH: Futura (K).
Weitere Lexika:
Thomas/de Vries, 1977; ContempArtists, 1983; DA XVII, 1996; Künstler. Krit. Lex. der Gegenwartskunst, Ausg. 39, 1997; I.F. Walther, Künstler-Lex., in: Kunst des 20. Jh., II, Köln u.a. 1998; R.Kostelanetz, A dict. of the Avant-Gardes, N. Y. (2)2000; Delarge, 2001; Bénézit, VII, 2006.
Gedruckte Nachweise:
R.Denizot, Les images quotidienne du pouvoir. O.K. au jour le jour, P. 1979; A.Rorimer, Art Inst. of Chicago Mus. Studies 17:1991(2)120-137+179-180; R.Denizot, O.K., Frankfurt am Main 1991; X.Douroux/F.Gautherot (Ed.), O.K.: whole and parts 1965-1995, Dijon 1995; J.Wall, Robert Lehman lectures on contemp. art, I,1996, 135-156; K.Chiong, October 90:1999(Autumn)50-75; J.Watkins, O.K., Lo./N. Y. 2002; J.-A. Woo, Art J. 69:2010(3)62-72; id., Oxford art journal 33:2010(3)261-276.; Kunstforum internat. 2015(232)303-305; R.Unruh, ibid. 280:2022(März-April)246-248
Onlinequellen:
David Zwirner Gall.