Kelley, Mike (Michael), US-amer. Installations-, Objekt-, Performance- und Videokünstler, Bildhauer, Maler, Zeichner, Musiker, Kunstschriftsteller, *27.10.1954 Wayne/Mich., †31.1.2012 (Suizid) South Pasadena/Calif.
Kelley, Mike
Stud.: 1972-76 Univ. of Michigan, Ann Arbor; 1976-78 Calif. Inst. of the Arts, Valencia; Schüler u.a. von Laurie Anderson, David Askevold, John Baldessari und Douglas Huebler. Ausz.: u.a. 1984 Grant, Louis Comfort Tiffany Found.; 1990 Grant, Nat. Endowment for the Arts; 2003 Fellowship, John Simon Guggenheim Memorial Found.; 2006 Wolfgang-Hahn-Preis, Köln. - Bereits während des Stud. in Ann Arbor konzipiert K. erste Performances (z.B. Futurist Ballet, 1973, zus. mit Jim Shaw) und gründet 1974 zus. mit Cary Loren, Niagara (Lynn Rovner) und Shaw die Punk-Rock-Formation Destroy All Monsters, der er bis zu seinem Weggang nach Los Angeles angehört. Im Kontext der Band-Aktivitäten entstehen neben einem gemeinsam hrsg. Fanzine erste Collagen, Zchngn und malerische Arbeiten, nicht zuletzt angeregt durch die lebendige, durch Auftritte von Musikern wie Iggy and the Stooges, MC5 oder Sun Ra, aber auch durch die Aktivitäten politisch-hedonistischer Gruppen wie den White Panthers geprägte, z.T. psychedelische Popkultur- und Underground-Szene Detroits (z.B. Elegy to the Symbionese Liberation Army, 1975; Paint. with Hawaiian Mask, Ballerina, and De Stijl Paint., 1976, beide Mischtechnik mit Collage/Papier). Von Anfang an integriert K. in seiner konzeptuellen künstlerischen Praxis bewusst Elemente der Massenkultur, die mit Zitaten aus der Hochkultur konfrontiert werden. Das groteske Schaffen eines Comiczeichners wie Basil Wolverton, dessen Cartoons u.a. in Mag. wie Mad und Plop abgedruckt werden, hat ihn so nach eig. Aussage ebenso geprägt wie die Beschäftigung mit der expressiven Malerei eines Francis Bacon oder Willem de Kooning oder mit der Kunst eines Grenzgängers wie Peter Saul. Bereits E. der 1970er Jahre zeigt sich in seinen Arbeiten zugleich immer wieder die z.T. sehr persönliche Auseinandersetzung mit dem Unbewussten, mit Sexualität und v.a. mit der eig., durch ein kath. Elternhaus geprägten Sozialisation (z.B. Objekt Catholic Birdhouse, 1978), was sich später auch im von K. selbst gewählten Titel Catholic Tastes widerspiegelt, unter dem das Whitney Mus., New York, 1993 die erste größere Retr. seines Schaffens präsentiert. Auf dem Cover des die Ausst. begleitenden Kat. sieht man K. in der Hausmeisterkluft seines Vaters abgebildet. Es sind v.a. die 1978-87 konzipierten Performances, mit denen er rasch zu einer Leitfigur innerhalb der zeitgen. kalifornischen Kunstszene avanciert. In Arbeiten wie Poetry in Motion (LACE, Los Angeles, 1978), The Monitor and the Merrimac (Found. for Art Resources, Los Angeles, 1979), The Poltergeist (1979, zus. mit D.Askevold), Monkey Island (Beyond Baroque Literary/AC, Venice/Calif., 1983) oder The Sublime (MCA, Los Angeles, 1984, zus. mit Ed Gierke und Mary Woronov) vermischen sich die performativen Elemente der Musik, des Tanzes oder des Burlesk-Theatralischen mit der Konzeption von später in Ausst. gezeigten Skulpturen, Objekten, Fotogr., Zchngn und malerischen Arbeiten und der Publ. von eig. Künstlerschriften (z.B. The Parasite Lily, in: High Performance, Nr. 11/12, 1980). Die Grenzen zw. Hoch- und Massenkultur verschwimmen dabei ebenso wie die zw. Groteske, Komik, schwarzem Humor, Ironie und "ernsten Themen" oder zw. plakativer Selbstinszenierung und sexueller Provokation. Diese Ambivalenz prägt auch die parallel zu den Performances und meist in Kooperation mit befreundeten Künstlern entstandenen Filme und Videos: u.a. The Loner (1980) und Son of Oil (1982, beide zus. mit Tony Oursler); The Banana Man (1982); Kappa (1986, zus. mit Bruce und Norman Yonemoto); Fam. Tyranny: Modeling and Molding (1987) und Heidi (1992, beide zus. mit Paul McCarthy); Blind Country (1989, zus. mit Ericka Beckman). Ab M. der 1980er Jahre entstehen zudem komplexe Installationen aus auf Flohmärkten oder in Second-Hand-Läden "gefundenen" Objekten. V.a. mit Arrangements aus handgemachten Stoffpuppen und Teppichen gelingen K. verstörende Arbeiten, in welchen sich das Ideal einer nostalgisch verbrämten, heilen Kindheit mit stets präsenten unterschwelligen Androhungen von Gewalt, Missbrauch oder Repression vermischt (z.B. More Love Hours Than Can Ever Be Repaid and The Wages of Sin, 1987, Whitney Mus., New York; Dialogue #7 [Ambiguity and Amorphousness], 1991, Slg Rafael und Teresa Jablonka). Die 1991 entstandene achtteilige Fotofolge Ahh... Youth! zeigt sieben frontal aufgenommene Kopf-Porträts durch den urspr. Gebrauch als Kinderspielzeug "verletzter" Stoffpuppen in Kombination mit einem fotogr. Selbstbildnis des Künstlers und betont so einen auch in dieser Werkgruppe fast immer mitschwingenden autobiogr. Bezug (auch als Cover-Motiv für das Album "Dirty" der New Yorker No Wave-Band Sonic Youth verwendet). Für K. selbst stehen die Stoffpuppen nicht zuletzt symbolisch für verniedlichte, sexuell indifferente bzw. neutrale Wesen, die so zugleich das von ihren Eltern oft allzu bereitwillig kultivierte Ideal perfekter Kinder repräsentieren. Auch in der mon., 1993 für die Ausst. Sonsbeek 93 in Arnhem konzipierten und 2004 für eine Schau in der Tate Liverpool neu eingerichteten, revidierten Installation The Uncanny arbeitet K. mit einem Patchwork disparater Objekte und Materialien. Mit Bezug auf Sigmund Freuds Essay "Das Unheimliche" inszeniert er ein museales Ambiente, ein Kab. der Erinnerung und Beklemmung zugleich, das aus der unmittelbaren Konfrontation einer umfangreichen Slg verschiedenster persönlicher Gegenstände mit "unheimlichen" polychromen, figurativ-realistischen Skulpturen and. Künstler wie z.B. Nayland Blake, Robert Gober oder Sarah Lucas sowie mit hist. und zeitgen. anatomischen Modellen entsteht. Ein weiteres Hw. der 1990er Jahre ist die Arbeit Educational Complex (1995, Whitney Mus., New York), ein aus der eig. (unvollkommenen) Erinnerung gefertigtes Archit.-Modell sämtlicher ehem. Ausb.-Stätten K.s vom Elternhaus über die Schule bis hin zur Universität. Die fehlenden Teile in diesem Erziehungs- und Disziplinierungs-Konglomerat, die Lücken, die zugleich als Leerstellen im Gedächtnis des Künstlers gesehen werden können, versteht er als Orte, an welchen traumatische Ereignisse stattgefunden haben (können), als repressiven Raum. Zu den letzten größeren Projekten K.s gehören schließlich die Werkgruppen Day Is Done (ab 2005) und Kandors (ab 2007). Die analog einem Jahresablauf in 365 einzelne Kapitel untergliederte, als Work in Progress konzipierte Arbeit Day Is Done bleibt letztlich ein nur in Teilen realisiertes Fragment. So präsentiert K. die Kapitel 2 bis 32 zunächst als komplexe, narrativ strukturierte Mixedmedia-Installation (Gagosian Gall., New York, 2005), um sie dann als mon. Künstlerbuch zu veröffentlichen (N.Y. u.a. 2007). Mit Hilfe von Installationsansichten, Video Stills, einem Libretto und erläuternden Texten sowie zwei CDs erzählt er anhand von in High School-Jb. gefundenen Fotogr. die fiktiven Erlebnisse von Schülern bei versch., außerhalb des normalen Lehrbetriebs stattgefundenen Ereignissen und Veranstaltungen wie z.B. Kostümfesten oder Theateraufführungen und erlaubt so gleichzeitig einen kritischen Blick auf Zwangsstrukturen in der Ausb. der jugendlichen Psyche. In den Kandors dagegen bezieht sich K. auf die populäre Comic book-Figur Superman, dessen durch eine Katastrophe zerst. Heimatplanet Krypton nur in einer auf Min.-Größe geschrumpften und unter einer Glasglocke konservierten Stadt namens Kandor überlebt hat. Ausgehend von versch., z.T. deutlich voneinander abweichenden Darst. dieses Reliktes in den Comics gestaltet K. auf den menschlichen Maßstab vergrößerte Skulpturen der Flaschenstadt, die ihm zugleich als Projektionsfläche seiner eig. Überlegungen zu den Themen Trauma, Erinnerung und Therapie dienen. Neben der eklektizistischen, in allen Medien beheimateten bildkünstlerischen und performativen Praxis entsteht zudem ein umfangreiches essayistisches Werk, das sich sowohl erläuternd mit dem eig. Schaffen, als auch analytisch mit dem Werk ähnlich arbeitender oder wesensverwandter Künstler wie z.B. Marcel Broodthaers, John Miller oder Paul Thek auseinandersetzt.
Foul perfection. Essays and criticism, C., Mass. 2003; Minor histories. Statements, proposals, conversations, C., Mass. 2004; Interviews, conversations and chit-chat, Z. 2005.
Einzelausstellungen:
1992 Basel, KH (Wander-Ausst.; K: T.Kellein) / 1993-94 New York: Whitney (Retr.; Wander-Ausst.; K: E.Sussman) / 1995 Hannover, Kestner-Ges. (K: C.Ahrens u.a.) / 1997 Barcelona, MAC (Wander-Ausst.; K: J.Lebrero Stals) / 1998 Wien, Secession (mit Paul McCarthy; K: K.Rhomberg u.a.) / 1999 Braunschweig, KV (K: C.Herring) / 1999-2000 Grenoble, Magasin (K) / 2000 (mit Peter Fischli und David Weiss; K), '08-09 (K) München, Slg Goetz / 2004 Liverpool, Tate (Retr.; Wander-Ausst.; K) / 2006 Paris, Louvre / 2011 Beverly Hills, Gagosian Gall. (K: J.Sconce) / 2012-13 Amsterdam, Sted. Mus. (Retr.; Wander-Ausst.; K: E.Meyer-Hermann; Ausst.-Verz., Lit.) / 2024 Düsseldorf, K 21 Ständehaus / 2024-25 London, Tate Modern. -
Gruppenausstellungen:
1985-2012 mehrmals New York, Whitney: Bienn. (K) / 1988, '95 Venedig: Bienn. (K) / 1992, '97 Kassel: documenta (K) / 1992 Paris, GN du Jeu de Paume: Désordres (K: C.David) / 2011-12 Los Angeles, PRISM: Return of the Repressed: Destroy All Monsters, 1973-1977 (K: N.Rudick) / 2020-21 Wien, Albertina: My Generation. Die Slg Jablonka (K) / 2020-21 Hannover, Sprengel Mus.: How to Survive (K) / 2025 Neuss, Langen Found.: Slg Ringier (K).
Weitere Lexika:
WWAA, 1991/92-2003/04; A.Bonito Oliva (Ed.), Enc. delle arti contemp., Mi. 2010
Gedruckte Nachweise:
B.Adams, AiA 72:1984(9)196 s.; K.O'Dell, ibid. 75:1987(5)184; Parkett 1992(31)62-107; K.McKenna, Art news 92:1993(9)150-159; T.Kellein, K. Ein Gespräch, Ostfildern 1994; J.Welchman u.a., K., Lo. 1999; D.Cooper, Artforum internat. 2000(2)124-129 (Interview); M.Haase, Texte zur Kunst 10:2000(39)136-142; K. im Gespräch mit Heinz-Norbert Jocks, Köln 2001; G.Leingre, 20/27, Rev. de textes crit. sur l'art 2009(3)98-127; C.Bodin, Art 2011(10)52-61; B.Coley/B.Joseph, Hungry for death. Destroy All Monsters (K), Boston 2011; On the beyond. A conversation between K., Jim Shaw and John C.Welchman, W. u.a. 2011; A.Goldstein, Artforum internat. 50:2012(9)240-251; D.Harvey, Mod. painters 2012(2)52-59; E.M. Wagner, Kunstforum Internat. 297:2024(Aug.)94-103; J.Restorff, ibid. 304:2025(Juli/Aug.)218-220.
Onlinequellen:
Gagosian Gall.; Website K.