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Carracci, Annibale

Geboren
Bologna, 3. November 1560
Gestorben
Rom, 15. Juli 1609
Land
Italien
Geschlecht
männlich
GND-ID
Weitere Namen
Carracci, Annibale; Caracci, Annibale
Berufe
Maler*in; Zeichner*in; Kupferstecher*in
Wirkungsorte
Parma, Venedig, Bologna, Rom
Zur Karte
Von
Perini, Giovanna
Veröffentlicht in
AKL XVI, 1997, 564; ThB VI, 1912, 55 ss

VITAZEILE

Carracci, Annibale, ital. Maler, Zeichner, Kupferstecher, *Okt.1560 Bologna (get. 3.11.1560), †15.7.1609 Rom. Bruder von Agostino, Cousin des Ludovico, Onkel von Antonio C.

LEBEN UND WIRKEN

Vermutl. zunächst Stud. unter Ludovico C., wohl vor dessen Einschreibung (1578) in die Compagnia dei Pittori als Maestro, wenn auch die ersten Arbeiten C.s ein enges stilist. Verhältnis zu Bartolomeo Passerotti zeigen. Im Gegensatz zu seinen Verwandten weisen die künstler. Anfänge von C. weniger Unklarheiten auf, da die dok. Tätigkeit im Pal. Fava 1583-84 (zus. mit Ludovico und Agostino C.) sich mit seinem offiziellen Debüt als Maler nahezu deckt (vgl. Kreuzigung und Hll., dat. 1583). V.a. aber führte sein Schicksal als Inspirator des klassizist. Künstlerkodex nach Bellori zu einer frühen Bewahrung und Dokumentation seiner Werke, wenn auch mit unzulässigen Zuschr. auf Kosten seiner Schüler (bes. Domenichino) und seiner Verwandten Ludovico, Antonio und bes. Agostino C. Seine Gewohnheit, die wichtigsten Gem. zu datieren, ermöglicht eine weitgehend gesicherte Chronologie, so daß Annibale in neuerer Zeit nicht zufällig als erstem der drei C. eine monograph. Unters. (Posner, 1971) sowie eine bes. gründliche Erforschung seiner künstler. Anfänge (Boschloo, 1974) zuteil wurde. Paradoxerweise praktiziert C. zahlr. versch. Bildgattungen, deren Vielfalt nicht immer mit der ihm später zugeschr. klassizist.-akad. Kunstauffassung übereinstimmt. Neben Historienmalerei und Portr. pflegt er als eigenständige Gattungen auch Genre, Lsch., Karikatur sowie viell. das Stilleben (falls das Innere einer Fleischerei, ehem. Coll. Lodi, von seiner Hand stammt). So bewundert der Zeitgen. Caravaggio an C. trotz unterschiedl. Kunstauffassungen einen ähnl. "antiakademischen" (ihm auch von Malvasia zuerkannten) Kunstgeschmack, den er versteht als "Tanta manifattura [aber man muß auch 'pensiero' hinzufügen] gli era a fare un quadro buono di fiori, come di figure". Jedenfalls debütiert C. im Zeichen der Genremalerei mit den beiden Fleischerei-Interieurs in Oxford und Fort Worth, dem Bohnenesser der Gall. Colonna sowie versch. zw. 1583 und '84 ausgef. Versionen des Trinkenden Knaben; nahezu zeitgleich (oder kurz vorher entstanden) mit seiner Kreuzigung und den als einzige Werke C.s in den Quellen des 17.Jh. nachg. Fresken im Pal. Fava. Im Gegensatz zu den ihm viell. bek. Gem. von Passerotti, Vincenzo Campi und evtl. Pieter Aertsen oder Joachim de Beuckelaer vermeidet C. ein Abgleiten ins Groteske oder Lächerliche, indem er eine verstärkte Naturbeobachtung mit großen Vorbildern (Raffael und Michelangelo; bes. an Figurenzitaten aus dem Vatikan, u.a. der Sixtin. Kap., erkennbar, wie Feigenbaum gezeigt hat) verbindet. Zu beachten sind auch die Zeichen-Stud. C.s als Gründungs-Mitgl. der Accad. degli Incamminati nach dem Vorbild der Posen berühmter antiker sowie mod. Werke. Zweifelsohne erschöpft sich die sog. "Riforma" der C. (allen voran Annibale) keineswegs in einer Umwertung der manierist. Darst.-Inhalte und Komp.-Weisen. Neben den Arbeitsmethoden erneuert er auch in ungewöhnl., bisweilen widersprüchl. Zitaten die Bildbezüge, die bei perfekter Adaption mit dem eigenen künstler. Kontext verschmelzen. So greift C. in seiner hist. und relig. Malerei auf Quellen des Quattrocento, bes. Ercole Roberti und dessen verlorene "Dormitio Virginis" (Bologna, Dom; nur in mittelmäßigen Kopien der C.-Schule des 17.Jh. überliefert), zurück. Deren Petrus-Darst. inspiriert in der gen. Kreuzigung die Figur der trauernden Gottesmutter; etwas weniger erscheint diese Abhängigkeit auch in späteren Arbeiten C.s, z.B. der Pietà in Parma, in der die Gestalt des Joh.Ev. an den Apostel in dem Renaiss.-Bild erinnert; die 1593 dat. Auferstehung (Paris, Louvre) nimmt in einem schlafenden Soldaten in freieren Formen den toten Juden neben dem Totenbett der Jungfrau auf. Weitere (wahrsch. toskan.) Quattrocento-Bezüge prägen neben der geheimnisvollen Allegorie in Hampton Court (um 1584) den von Mantegna inspirierten, zwar nicht einmütig, jedoch begründet C. zugeschr. Toten Christus (Stuttgart). Auf Anraten von Ludovico unternahmen C. und Agostino eine Studienreise nach Venedig und Parma (1580), deren Einflüsse, bes. durch Correggio, in der gen. Allegoria und in den Fresken im Pal. Fava deutlich werden - obwohl darin meist ausschl. Einflüsse des F.Barocci erkannt werden. Diese wiederum dominieren auch in der 1585 dat. Taufe. Obwohl ein Toskana-Aufenthalt (1583/84), wie Arcangeli annimmt, durchaus möglich ist, war dem jungen C. die toskan. Bildwelt lt. Dempsey ebenso in Bologna, z.B. durch Ludovico, sehr wohl zugänglich; bes. aber dank der im Norden studierenden Sienesen Francesco Vanni und Ventura Salimbeni, mit denen alle drei C. offenbar dauerhafte Kontakte unterhalten. Auch die Biogr. C.s verrät eine kaum vorstellbare Reisefreudigkeit für damalige Künstler. Dennoch scheint C. seine Kritik an der toskan. Maniera und bes. an Vasari als Maler und Schriftsteller in den Anm. zur eigenen Kopie von dessen Viten erhebl. später (wahrsch. am A. seines Rom-Aufenthalts im Dienste der Farnese um 1595) formuliert zu haben, denn sie setzt nicht nur zahlr. Reisen in die Toskana und deren unmittelbare Kenntnis voraus, sondern bezeichnet auch alle venez. Künstler (u.a. Veronese) als bereits verstorben. In seiner Jugend fließen theoret. Überlegungen und Kritik gemäß seinem berühmten, oft mißverstandenen Ausspruch "noi altri dipintori abbiamo a parlar con le mani" (wir Maler müssen mit den Händen sprechen) unmittelbar in die künstler. Produktion ein. Wenn ein Gem. wie der (unter versch. venez. Zuschr. kursierende und kürzlich wieder C. zuerkannte) Hl. Sebastian die bei Malvasia erw. mißgünstige Kritik seitens der manierist. Maler an den Anfängen der C. zu bestätigen scheint ("un modo triviale troppo ... senza fondamento e povero di partiti ... uno stile da praticarsi nell'accademia del nudo, non da servirsene in un quadro da altare"), so gilt die Pietà aus Parma (dat. 1585) gewöhnl. als Beispiel eines tieferen Verständnisses des Correggio. Dennoch wirken darin neben diesen neuen Anregungen und den deutl. Einflüssen des Cousins Spuren eines noch nicht völlig abgelegten spätmanierist. Vokabulars fort, z.B. in der Frisur der Engel (und in diversen Passagen nicht nur von seiner Hand im Jason-Zyklus des Pal. Fava). Wenig später malt C. seine Mystische Vermählung der hl.Katharina (Neapel), in der die Correggio-Rezeption sowie ein gewisses Interesse für Parmigianino deutlich zutage treten. Es entstehen erste Portr., u.a. das heute beschädigte, von Ludovico geprägte und ihm daher lange Zeit zugeschr. Bildnis des Giacomo Filippo Turrini (1585). Das wenige Jahre später voll. Portr. des Claudio Merulo scheint Agostino näher zu stehen und weist in der Spontaneität der Figurenhaltung sowie der zarten Farbgebung auf die nur kurz danach ausgef., aber höchst modern, d.h. rasch skizzierten und nahezu impressionist. anmutenden Männerköpfe (Hampton Court bzw. Priv.-Slg; beide 1589/90). Als Portr.-Maler scheint C. insgesamt jedoch weniger in Erscheinung zu treten, wenn man von Zuschr. gefälschter, zweifelhafter oder minderwertiger Arbeiten absieht. Hingegen beginnt er eine blühende Produktion von Andachtsbildern (zahlr. gefühlvolle und in zarten Farben gemalte Franziskus- sowie halbfigurige Schmerzensmann-Darst.) für priv. Auftraggeber. Auch entstehen zunehmend bed. und mon., unter dem deutl. Einfluß des Correggio in pastosen Farben und kräftiger Zchng ausgef. Altar-Gem., deren großzügige Ausdrucksstärke in Darst. wie der Dresdener Thronenden Madonna mit Hll. (1588) sowie der kraftvoll komponierten Madonna des hl.Lukas (beg. 1589, dat. 1592) gipfelt. Ähnl. Einflüsse finden sich an den bemerkenswert geglückten Werken profanen Charakters, etwa einer florentin. Bacchantin (Kopie oder Replik in Norfolk, sign., dat. 1588) und der Venus und Adonis des Prado (ebenfalls mit mindestens einer weiteren Version in Wien). Zugleich emanzipiert C. seine urspr. der Historienmalerei untergeordneten Lsch.-Darst. zu einem eigenständigen Genre, welches sowohl in der Wahl der Bildformate als auch in der Ausf. an Bedeutung gewinnt: Zunächst fungiert das Naturwahre lediglich als Staffage zahlr. Jagd- und Anglerszenen, deren Figuren das Gesamtbild eindeutig beherrschen. Allmähl. drängt jedoch die reine Natur-Darst. in den Vordergrund und verweist - keineswegs nur metaphor. begründet - die stark verkleinerten menschl. Figuren in den Hintergrund (Washington; Berlin). Noch innerhalb der hist. Darst. wandelt sich also allmähl. ihre Bedeutung: von einer maler. Naturauffassung venez. Prägung ausgehend, reduziert C. die Darst. von ital. Wäldern und der Campagna, gelangt über (freilich nur oberflächl. rezipierte) nord. Landschaftsmuster (Paolo Fiammingo, die Bril) zur raffinierter Sublimierung eines idealen Landschaftsschemas, das frz. Malern wie Poussin, Dughet und Lorrain als Vorbild dienen wird, wo der Zeitenwechsel sich in der Szenenbeleuchtung widerspiegelt und die Natur zwar geordnet, aber keineswegs leblos erscheint. So führen die aldobrandin. Lünetten weniger das Absolute der Natur, als vielmehr die Verabsolutierung der Kunst selbst vor. Dennoch bevorzugt C. die ihm wesensverwandtere Historienmalerei, die er in einer langen Werkfolge entwickelt. Den Ausgangspunkt bildet zweifelsohne sein Beitrag zu den Fresken im Pal. Magnani mit den Szenen aus der Romulus-und-Remus-Sage (1590-92). Hier gelingt eine derart harmon. Zus.-Arbeit der drei künstler. voll ausgereiften C., daß Annibale noch bei der Dekoration der Gall. im Pal. Farnese in Rom zw. 1596 und 1601 davon nachhaltig geprägt sein wird. Dies dok. in bes. Maße die Gestaltung der Gewölberahmung mit ihrer komplexen Wechselwirkung illusionist. Skulpt.- und Figuren-Darst. (nackte Jünglinge und Putti), während die etwas früher voll. Ausstattung des Camerino ebd. durch die ebenfalls gemeinsame Arbeit der drei C. im Pal. Sampieri (1593-94) beeinflußt zu sein scheint. C. kombiniert in der gen. Gall. eigene Ideen, Anregungen des Cousins (dem der Ruf nach Rom urspr. gegolten hatte) und des Bruders (der seit langem für die Farnese tätig war) mit (listigen) Rückgriffen auf Michelangelo, Marcantonio Raimondi, Pellegrino Tibaldi u.a. antike und zeitgen. Autoritäten. Bislang fand zwar die hist. (Beginn des röm.-klassizist. Barock) und ikonolog. bzw. lit.-symbol. Bedeutung dieses Freskenkomplexes bes. Beachtung, nicht aber die Ikonogr. der Bildquellen, obwohl gerade dies zur klaren Beurteilung subtiler "antiklass.", v.a. "antiröm." Tendenzen innerhalb eines gemeinhin als vollkommenes Beispiel klassizist. Kunstform akzeptierten Kontextes beitragen könnte. Denn am iron. Einsatz zeitgen. und hist. Zitate aus der röm. Malerei sowie der Verwendung zahlr., auch dem frühen Cinquecento entstammender bolognes. Quellen ist eine pointierte und bewußte Oppositionshaltung von C. gegenüber der vorherrschenden Bildlehre unschwer festzustellen. Diese Haltung bestätigen die leidenschaftl., in seine Ausg. der Viten des Vasari eingetragenen Kommentare. Sie wirkt aber eher in seiner theoret. Überzeugung als der bildkünstler. Produktion fort und deckt sich vollst. mit seinem nicht ganz ernst gemeinten Beitrag zur Debatte über den Vergleich (Paragone) der Künste, der die figürl. Darst. der dekorativen Rahmen mit denen der "quadri riportati" in Bezug zueinander setzt. Im übrigen unterscheidet sich der röm. Kunstbetrieb zum Zeitpunkt der Ankunft C.s (1595) nicht so sehr von der Situation in Bologna: Präs. der Accad. di S.Luca ist der Sizilianer Tommaso Laureti, der zuvor in Bologna lange Zeit als geachteter Vertreter der späten Maniera wirkte; der frühere Erzbischof von Bologna, Gabriele Paleotti (dessen Vorliebe für die C. heute immer zweifelhafter erscheint), ist Kardinalprotektor in Rom. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Tatsache, daß eine Einschreibung C.s in die röm. Accad. (offenbar trotz wiederholter Versuche; vgl. diesbezügl. Zahlungen von 1604 und 1607 anläßl. Feierlichkeiten zu Ehren des Akad.-Patrons) nicht nachg. ist, an Bedeutung. Als Hauptvertreter der C.-Reform in Rom entwickelt er jedenfalls unter der stark prägenden neuen Umgebung eine eigenständige, originelle Bildsprache. Die A. der 1590er Jahre in perfekter Übereinstimmung mit entsprechenden Erfahrungen seiner beiden Verwandten an den eigenen Werken deutl. zutage tretenden venez. Einflüsse verblassen rasch. Sie zeigen sich noch in Reinform in der Himmelfahrt Mariä von 1592, der Toilette der Venus in Washington sowie in einer von Veronese inspirierten, 1594 dat. Kreuzigung in Berlin, aber auch in den durch Correggio geprägten Bildern (Madonna des hl.Ludwig, um 1589/90; Christus und die Samariterin, ca. 1593/94; Auferstehung, dat. 1593); dessen Vorbild verschmilzt in der Madonna mit Kind und Hll. (1593) mit Anregungen des Andrea del Sarto. Diese singuläre Mischung spräche durchaus für unmittelbare Kontakte C.s nach Florenz, wo ja der Bruder kaum drei Jahre vorher weilte. Sie könnte darüber hinaus die Herkunft eines Teils der Bildquellen erhellen, die der Almosenspende des hl.Rochus von 1595 zugrunde liegen. Dieses Gem. ist allerdings nicht ausschl. C. zuzuschreiben, da er bereits in Rom vollauf damit beschäftigt war, eine neue, wesentl. raumgreifendere und stärker rhythmisierte, großzügigere Komp.-Form seiner Figuren-Darst. zu erarbeiten. Diese stilist. Wendung des C. umschrieb Malvasia mit dem bewußt negativen Begriff "statuino": ein mißgünstiges und z.T. ungenaues Urteil, das allenfalls auf die Schüler des C., v.a. Domenichino, Sisto Badalocchio oder Francesco Albani zuträfe. Tatsächl. ist es eine klarer definierte, von Hintergrund und Umraum gelöste Figuren-Zchng, die den dargestellten Personen einen verstärkt statuar. Charakter verleiht. Dennoch erscheinen sie weiterhin in einer Lebendigkeit, die nun nicht mehr der Oberfläche pastos gesetzter Farben entspringt, sondern einer an aufmerksamem Antiken-Stud. gereiften Sicherheit der zeichner. Darst v.a. nackter Körper, die C. dem gleichförmigen Entwurfsmuster michelangelesker Prägung entgegensetzt. Diese Neuorientierung C.s schöpft wesentl. aus der Assimilierung verschiedenster Vorbilder, welche stets nur als formelhafte Kombination zw. lombard. Naturalismus und toskan.-röm. Disegno rezipiert wurde. Tatsächlich modifiziert C. Michelangelo in demselben Maße, wie Agostino C. in seinen Stichen Barocci oder Tintoretto abwandelt. Demgemäß dok. Werke wie die Londoner Versuchung des hl. Antonius, die nächtl. Darst. einer Anbetung der Hirten (Orleans), die Geburt der Jungfrau (Paris), die Drei Marien am Grab (St. Petersburg), die Pietà - Darst. (Neapel, Paris, Wien, London) sowie das Gem. Domine quo vadis um die Wende vom 16. zum 17.Jh. die mannigfachen, in Qualität und Wirkungsgrad völlig versch. Ansätze zur Erlangung eines Gleichgewichts zw. großartiger Rhetorik in der Zchng sowie Eleganz und Vielfalt der Farbgebung; ein Gleichgewicht, dessen ideales Vorbild seit Massani und Bellori zu Recht in Raffael erkannt wird. Natürlich gelingt es C. nur schwer, einen so hohen künstler. Anspruch konsequent aufrecht zu erhalten, ohne bisweilen in formelhafte Bildchiffren oder erneut in eine klassizist. Maniera zu verfallen (so z.B. bei seiner Himmelfahrt Mariä in S.Maria del Popolo). Bes. nach 1605 ist der kranke - und wegen seiner mäßigen Erfolge im Kreise der Farnese enttäuschte - C. auf Mitarb. unterschiedl. Intelligenz, Talente und Reife angewiesen (vgl. die Capp. Herrera in S. Giacomo degli Spagnuoli). Ebensowenig genügen seine mittlerweile selbst zu Meistern avancierten Schüler (Domenichino, F.Albani, S.Badalocchio, Innocenzo Tacconi, Antonio C.) einem solchen Anspruch. So gerät die Rezeption der röm. Werke von C. weniger zum Vorbild für ein aktiv weiterführendes, im Kern radikales künstler. Erkenntnisstreben, als vielmehr zu meisterlichen Lehrstücken und Objekten getreuer Bewunderung sowie devoter Nachahmung, d.h. zur Aufgabe der prakt., theoret. wie auch formbildenden Prinzipien der C.-Reform. Diesem Verrat versucht Ludovico mit aller Kraft entgegenzuwirken, indem er seine bildkünstler. Motive in die Dienste einer moral. Polemik stellt und über die rein stilist. erhebt. Wenn C. es unternimmt, die krit. Methode von Raffael neu zu formulieren (ohne übrigens irgendein Bildzitat zu übernehmen - wie in den Bologneser Jahren an Correggio interessiert ihn jetzt an Raffael die Syntax, nicht das Vokabular), so gilt dasselbe für Ludovico, der versucht, von den padan. Malern des Cinquecento, von Pordenone, Lotto und Altobello Melone bis zu Lelio Orsi, Aspertini, Garofalo, Ausdruckstendenzen aufzunehmen. Daß C. sein anfängl. "impressionist." Erkenntnisinteresse in einer Art abstrakter, im Lichte idealer, absoluter Schönheit definierten Metaphysik münden läßt, liegt gewiß nicht in seinen bewußt formulierten Absichten. In der Tat sollte die zeitgleiche lit. Beschäftigung C.s mit der Karikatur - einige seltene graph. Beispiele erh. (zahlr. Karikaturen Agostino zugeschr.) - nicht mißverstanden werden. So erweist sich die Einführung des Monsignore Massani zu den "Arti di Bologna" (1646), einer Slg von Stichen nach bolognes. und röm. Zchngn des C. (Darst. fliegender Händler versch. Berufszweige) als sehr aufschlußreich. In den Augen dieses Prälaten aus dem Umkreis der Barberini bilden jene aus dem Leben gegriffenen Darst. das theoret., künstler. wie auch hist. Bindeglied zw. der C. durch Monsignor Giovanni Battista Agucchi zugeschr. Extremposition des Idealschönen einerseits und einer durch Massani C. in den Mund gelegten Theorie der Karikatur andererseits. Nur zeigt sich darin kaum mehr als ein "caravaggesker" Realismus (nicht zufällig vergleicht man C., ebenso wie Caravaggio, mit dem Maler Demetrius) sowie eine hohe mimet. Flexibilität des Künstlers - ihm selbst schlicht "diletto e ricreatione", dem dilettierenden Kunstliebhaber ein angenehmer "Passatempo". Denn die kluge Nachahmung beruht nicht auf einer rein gegenständl. Wiedergabe der Natur selbst, sondern auf der Darst. des Naturwahren im Sinne einer idealen und vollkommenen Projektion der schönen Formen. Da diese im Realen von sich aus nicht genügend in Erscheinung treten, verhilft ihnen erst die Betrachtung der besseren antiken und mod. Kunst zur Geltung. Dem Positivum des Idealschönen steht als exakte Umkehrung die Theorie der Karikatur als Ausdruck des "brutto ideale" gegenüber, ein Superlativ des Unvollkommenen, das sich in der Naturwirklichkeit ebenfalls nur ansatzweise zeigt. Die theoret. Formulierung dieser gegenläufigen und dabei absolut symmetr. Prinzipien ist in den Schriften der beiden Monsignori dok.: Tatsächlich erweist sich die von Massani wiedergegebene Theorie der Karikatur selbst wieder als Zerrbild der von Agucchi dargelegten Lehre des Idealschönen. Meines Erachtens mißversteht Massani scherzhafte Bemerkungen C.s, mit welchen dieser die Bedeutung seiner Zchngn wie auch die Eitelkeit gewisser Kunstliebhaber herunterzuspielen trachtet. Denn das "Bello Ideale", wie es aus den zahlr. erh. Zchngn der C. und ihrer Wkst. hervorgeht, widerspricht klar den Darlegungen des Agucchi. Vielmehr orientiert es sich an einer Rezeption früherer künstler. Vorbilder, die gleichsam am Realismus lebender Modelle aktualisiert sind. Die antiken und zeitgen. Kunstwerken entlehnte Pose der dargestellten Personen führt zu einer Nobilitierung der Unvollkommenheit des lebenden Modells durch das Zitat des großen Beispiels, aber umgekehrt zugleich zur Belebung des abstrakten künstler. Vorbildes mit der Präsenz der real dargestellten Figur. Dieser doppelt gesicherte Realitätscharakter gewährleistet jene C. eigene Ausgewogenheit zw. Naturalismus und Manierismus (und nimmt die Dialektik des Giambattista Vico mit seiner Verifizierung des Gewissen und Vergewisserung des Wahren vorweg). Er leistet damit wesentlich mehr als die von Agucchi simplifizierte Doktrin des Idealschönen, wie sie übrigens später auch Bellori (über den aufmerksam rezipierten Armenini rhetor. aufgebläht, aber theoretisch mißverstanden) übernehmen wird.

WERKE

(Wenn nicht anders vermerkt, Öl/Lw.): Barcelona, Mus. d'Art de Catalunya: Szene der Kap. Herrera, abgelöste Fresken, um 1604-06 (mit Gehilfen). Berlin, SMPK, GG: Kreuzigung, dat. 1593; Lsch., ca. 1593. Bologna, Pal. Fava, Camerino d'Europa: Europa auf dem Stier, Raub der Europa, Fresken, ca. 1583; Jason-Saal: Begräbnis des Jason, Jugend des Jason, Bau der Argo, Reise zu Lande, Kampf mit den Schlangen, Treffen von Jason und Aietes, Fresken, voll. 1584; Aeneas-Saal: Polyphem, Kampf der Gefährten des Aeneas mit den Harpyien, die das Mahl der Krieger besudeln, Ankunft der trojan. Krieger in Italien, Fresken, ca. 1585-87. - Pal. Francia: Tod der Dido, abgelöstes Fresko, dat. 1592. - Pal. Magnani: Szenen aus der Romulus-und-Remus-Sage, Fresken, 1590-92. - Pal. Masetti (aus dem Pal. Magnani): Bacchus, abgelöstes Fresko, ca. 1590. - Pal. Sampieri: Herakles wird von der Tugend geführt, Herakles und Kakus, Fresken, ca. 1593/94. - PN: Kreuzigung und Hll., dat. 1583; Verkündigungsengel und Jungfrau der Verkündigung, ca. 1587; Verspottung Christi, ca. 1587; Madonna in der Glorie und 6 Hll., ca. 1589/90; Himmelfahrt Mariä, dat. 1592; Madonna und Hll., dat. 1593; Toilette der Venus, ca. 1605; Hl.Franziskus im Gebet, Öl/Kupfer, ca. 1596. - SS.Gregorio e Siro: Taufe Christi, dat. 1585. Budapest, SzM: Christus und die Samariterin, ca. 1597. Chantilly, Mus.Condé: Schutzengel, ca. 1596; Schlafende Venus, 1602/03 (mit Mitarb. ?). Dresden, GG AM: Hl.Sebastian, ca. 1583; Ecce homo, ca. 1586/87; Himmelfahrt Mariä, dat. 1587; Thronende Madonna mit Hll., dat. 1588; Der Genius des Ruhmes, ca. 1588/89; Madonna mit der Schwalbe, ca. 1590; Portr. des Musikers Mascheroni, ca. 1593/94; Almosenspende des hl.Rochus, ca. 1595 (mit Ludovico C.). Florenz, Uffizien: Venus und Satyr, ca. 1588; Madonna mit Kind und dem Johannesknaben, Öl/Kupfer, 1596/97. - Pal. Pitti: Christus in der Glorie und Hll., ca. 1597/98. Fort Worth/Tex., Kimbell AM: Kleine Fleischerei, ca. 1582. Grottaferrata, Abbazia di S.Nilo: Madonna und Hll., ca. 1605. Hampton Court Palace, R. Coll.: Allegorie, ca. 1584; Männl. Bildnis, ca. 1589/90; Das Schweigen, ca. 1600. London, NG: Versuchung des hl.Antonius, Öl/Kupfer, ca. 1598; Bacchus und Silen, Silen pflückt Trauben, Tempera/Holz, ca. 1599; Domine quo vadis, Öl/Holz, ca. 1602; Pietà, ca. 1606. - Kunstmarkt: Bildnis eines Alten, Öl/Papier, ca. 1589/90. Madrid, Prado: Himmelfahrt Mariä, ca. 1587; Venus und Adonis, ca. 1588; Szenen aus der Kap. Herrera, abgelöste Fresken, ca. 1604-06 (mit Gehilfen). Mailand, Pin. di Brera: Christus und die Samariterin, ca. 1594. Modena, Gall. Estense: Venus und Cupido, ca. 1592/93. Neapel, MN di Capodimonte: Mystische Vermählung der hl.Katharina, ca. 1585/86; Vision des hl.Eustachius, ca. 1586/87; Bildnis des Claudio Merulo, dat. 1587; Flußallegorie, ca. 1594; Pietà, ca. 1599; Rinaldo und Armida, ca. 1601 (mit Mitarb.); Satyr, ca. 1608 (im Depot in Piacenza); Christus und die Kanaanäische Frau, ca. 1595/96 (im Depot in Parma). New York, Metrop. Mus.: Marienkrönung, ca. 1596/97. Orleans, MBA: Anbetung der Hirten, ca. 1597/98. Oxford, Christ Church Gall.: Große Fleischerei, ca. 1582; Trinkender Knabe, ca. 1583; Bildnis des Giacomo Filippo Turrini, 1585; Madonna in der Glorie über der Stadt Bologna, ca. 1593. Paris, Louvre: Lsch. mit Jagdszene; Lsch. mit Fischfangszene, ca. 1587/88; Madonna des hl.Lukas, dat. 1592; Auferstehung, dat. 1593; Mariengeburt, ca. 1598/99; Lsch. mit Opferung Isaaks; Lsch. mit der Opferung Absaloms, Öl/Kupfer, ca. 1599; Herkules tötet die Schlangen, Öl/Holz, ca. 1599; Pietà, ca. 1602; Martyrium des hl.Stephanus, Öl/Kupfer, ca. 1603. Parma, Gall. Naz.: Selbstbildnis mit Hut, dat. 1593; Pietà und Hll., dat. 1585. Rom, Pal. Farnese, Camerino und Gall.: Fresken, 1595/97 und 1599-1604 (mit Gehilfen). - Pin. Capitolina: Hl.Franziskus in der Meditation, ca. 1584. - Gall. Borghese: Hofnarr, Öl/Papier, ca. 1583; Samson, ca. 1594. - Gall. Colonna: Bohnenesser, ca. 1583. - Gall. Doria Pamphilj: Hl.Katharina von Alexandrien, Öl/Holz, ca. 1582; Lünette Aldobrandini, ca. 1604 (mit Gehilfen); Lsch. mit Maria Magdalena, ca. 1600. - S.Caterina dei Funari: Hl.Margarita, ca. 1597-99 (mit Gehilfen). - Hl.Maria von Monserrat, Öl/Holz, ca. 1606 (mit Gehilfen). - S.Maria del Popolo: Himmelfahrt Mariä, ca. 1600. St. Petersburg, Ermitage: Selbstbildnis mit Staffelei, ca. 1604. Stuttgart, SG: Toter Christus, ca. 1583. Venedig, Gall. dell'Accad.: Hl.Franziskus in der Meditation, ca. 1585/86. Washington/D.C., NG of Art: Lsch. mit Fluß, ca. 1589/90; Toilette der Venus, ca. 1595. Wien, Kunsthist. Mus.: Pietà, 1603.

SELBSTZEUGNISSE

Briefe, poet.Fragm. und Anm. zu den Viten des Vasari in: G. Perini, Gli scritti dei C., Bo. 1990, 149-166.

AUSSTELLUNGEN

Einzelausstellungen:

1986 Roma, Ist. Naz. della Grafica: A.C. e i suoi incisori (K). -

 

Gruppenausstellungen:

1956 Bologna, Pal. dell'Archiginnasio: Mostra dei C. / 1959 ebd.: Maestri della pitt. del Seicento emiliano / 1961 Paris, Louvre, Cab. des Dessins: Dessins des C. / 1984 Bologna, PN: Bologna 1584 / 1986 ebd.: Nell'età del Correggio e dei C.; Washington, NG of Art New York, Metrop. Mus.: The age of Correggio and the C. / 1988 Bologna, MCiv.Archeol.: Dall'avanguardia dei C. al sec. barocco / 1994 Darmstadt, Hess. LM: Il gusto bolognese; Paris, Louvre, Cab. des Dessins / 1995 München, Haus der Kunst: Glanz der Farnese; Colorno, Pal. Ducale / Neapel, MN di Capodimonte / 1996 Rom, Pal. Venezia (alle mit K).

 

QUELLEN

Thieme-Becker, Vollmer und AKL:

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Gedruckte Nachweise:

Addenda: M.Matile, Gusto e passione. Ital. Zchngn aus der Slg Gadola (K Zürich), Basel 2004

 


THIEME-BECKER

Artikel von: Hugo Schmerbcr.

Carracci, Annibale, Maler und Kupferstecher, getauft zu Bologna 3. 11. 1560, † zu Rom 15. 7. 1609. Wo er die erste Lehre empfing, ist nicht bekannt; als sein Vetter Lodovico wieder nach Bologna kam, nahm er ihn nebst seinem Bruder Agostino in sein Haus. Aus Briefen wissen wir, daß er 1580 nach Parma ging, wo er von Correggios Kunst begeistert war. Später hielt er sich wiederholt in Parma auf und zog auch nach Venedig. Zu Beginn der 90er Jahre führte Annibale mit Lodovico und Agostino in Bologna eine gemeinsame Werkstätte, welche im letzten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts immer bekannter wurde. (Wegen der Accademia degli Incamminati siehe bei Agostino und Lodovico.) Sie waren mit großen Aufgaben überhäuft und mußten Bestellungen zurückweisen. Annibale, der langsam und sorgfältig arbeitete, konnte schon früh nicht allen Anforderungen nachkommen und mußte die Hilfe der Schüler in Anspruch nehmen. So z. B. im Jahre 1593 bei der "Madonna" aus S. Giorgio (jetzt in der Pinakothek zu Bologna Kat. No 37), an der sein Schüler Lucio Massari gearbeitet hat (Tietze). Aus der Zeit vor seinem römischen Aufenthalt stammen noch folgende Tafelbilder: "Himmelfahrt der Madonna" (Bologna, Pinakothek No 38), "Die Madonna erscheint dem hl. Lucas" (für Reggio, jetzt im Louvre), welche 1592 signiert ist. Das von dcn Zeitgenossen viel bewunderte Bild "Der hl. Rochus Almosen spendend" (jetzt in Dresden, Galerie) wurde, nach einem Brief Annibales zu schließen, noch in Bologna begonnen. Es ist ein typisches Bild: unruhig agierende Figuren, die ihre Emotionen möglichst scharf ausdrücken, der Raum in mehrere Bühnen geteilt; ein einheitlicher Gesamteindruck fehlt, der Beschauer muß die einzelnen Figuren und Szenen betrachten. Um diese Zeit ergingen an die Carracci die großen Aufträge zu den Freskoarbeiten in den Bologneser Palästen. Das erste derartige Werk war die Dekoration mehrerer Räume im Palazzo Fama. In einem Fries ist der Zug der Argonauten dargestellt, die Friese in einem kleineren Saale enthalten Szenen aus der Aeneide. Diese Fresken, von denen Lodovico die letzteren entworfen haben soll, und an denen auch Agostino arbeitete, fallen zwischen 1580-1585. Eine weitere gemeinsame Arbeit sind die Fresken im Palazzo Magnani, eines der Hauptwerke aus dieser Zeit. In einem großen Saal war ein Fries mit Darstellungen aus der Geschichte des Romulus zu malen. Die einzelnen Bilder sind durch steinfarbene Atlanten und fleischfarbene Putten getrennt. Die Arbeit wurde zum größten Teil von Annibale und Lodovico ausgeführt, von Agostino stammt nur ein geringerer Teil. Man konnte schon früh flieht mehr feststellen, was jeder Einzelne daran gemacht hatte, und es heißt, sie hätten selbst gewünscht, das Werk als gemeinsame Arbeit betrachtet zu sehen: "l'abbiam fatta tutti noi". Die neuere Forschung (Tietze) hat sich indessen bemüht, die Anteile der einzelnen Maler mit Hilfe von Zeichnungen festzustellen; nach diesen Untersuchungen ist der Anteil Annibales, der um diese Zeit noch ganz im Banne Correggios war, am ehesten zu erkennen. Aus dem Jahre 1592 stammen die Kaminfresken im Palazzo Zambeccari zu Bologna und im selben Jahre sind die Fresken im Palazzo Magnani wahrscheinlich beendet. In die Jahre 1593-94 fallen nach Tietze die Arbeiten im Palazzo Sampieri in Bologna. Drei Zimmer im Erdgeschoß erhielten je ein Deckengemälde und ein Kaminbild, die Motive sind dem Sagenkreis des Herkules entnommen. Es war wieder eine gemeinsame Arbeit der drei Künstler, diesmal unter größerer Beteiligung von Agostino. Von Annibale stammt nur das Deckenfresko im zweiten Gemach: "Herakles von der Tugend ermutigt". Der Held steht mit einem Fuße auf der Spitze eines Felsens, die Linke hält die schwere Keule gesenkt, die Rechte streckt sich gegen eine Wolkenmasse aus, die von einer Frauengestalt mit beiden Händen hochgehalten wird. In der Mitte der 90er Jahre trat durch die Berufung nach Rom die entscheidende Wendung im Leben Annibales ein. Schon längst hatte er den glühenden Wunsch, nach Rom zu kommen. Um diese Zeit war Rom das Zentrum der italienischen Kunstbewegung geworden, nur dort, in dem Brennpunkt aller künstlerischen Ereignisse, konnte sich der Künstler eine hohe Stellung erringen. Der Kardinal Odoardo Farnese hatte die Absicht, einen Saal seines 1589 vollendeten Palastes aufs reichste auszuschmücken. Daß er bei diesem Auftrag auf die Carracci verfiel, lag durch verschiedene Gründe nahe. Sie hatten in Bologna in mehreren Palästen schon ähnliche monumentale Aufgaben mit großem Erfolg gelöst, außerdem hatten sie von jeher gute Beziehungen zum Hofe von Parma, wo Herzog Ranuccio, der Bruder des Kardinals, sich für sie lebhaft interessierte. Im Jahre 1595 schreibt der Kardinal an seinen Bruder von dem Plan der Galeriedekoration und erwähnt, daß er dazu die "Carriaccioli Bolognesi" kommen ließ "alcuni mesi sono". Der Zeitpunkt von Annibales Ankunft in Rom steht indessen nicht fest, es scheint, daß er zu Ende des Jahres 1595 definitiv nach Rom kam und in den Dienst des Kardinals trat. Es wird erzählt, daß er eine Wohnung im Palast erhielt und wie ein Edelmann des Hauses behandelt wurde. Agostino folgte erst später, etwa 1597, seinem Bruder nach Rom. In der ersten Zeit seines römischen Aufenthalts arbeitete Annibale nicht an der Galerie, sondern schuf eine Reihe von andern Arbeiten für den Kardinal. Es entstand das Tafelbild "Thronender Christus mit Heiligen" (Palazzo Pitti No 220) vielleicht 1595; eine Federzeichnung zu dem obern Teil des Bildes findet sich im Museum zu Lille. Noch ist der Künstler ganz in den Bahnen Correggios, die Lichtführung ist das Hauptproblem. Wahrscheinlich bald nach seiner Ankunft in Rom wurde Annibale beauftragt, ein kleines Zimmer (Camerino) im Palaste zu dekorieren. Die Decke des Gemaches ist durch ein vergoldetes Rahmenwerk in unregelmäßige Felder zerlegt. In der Mitte der Decke befindet sich ein rechteckiges Bild auf Leinwand gemalt "Herkules am Scheidewege"; auf zwei ovalen Seitenbildern (Fresken) ist dargestellt: "Herkules von seinen Kämpfen ausruhend" und "Herkules, den Atlas tragend". Zu den Seitenbildern existieren mehrere Zeichnungen im Louvre. Das Mittelbild befindet sich gegenwärtig im Museo nazionale in Neapel und ist im Camerino durch eine Kopie ersetzt. Die Lünetten an den Stirnseiten des Zimmers stellen zwei Szenen aus dem Odysseus-Mythos dar, "Odysseus mit Circe" und "Das Abenteuer des Odysseus mit den Sirenen". Zu beiden Bildern sind Studien im Louvre erhalten; besonders die mehrfachen Entwürfe zu dem zweiten Motiv zeigen deutlich Annibales sorgfältige, überlegende Arbeitsweise. Die halb liegende, halb sitzende Stellung der Circe mit den weit ausladenden Gliedern ist charakteristisch für die Zeit. Zwei andere Lünetten des Zimmers enthalten die Sage von "Amphinomus und Anapis", sowie den "Tod der Medusa" und andere Lünetten zeigen fliegende weibliche Genien mit Lorbeerkränzen. Die Werke im Camerino, bei denen Annibale das Wesentliche selbst durchführte (denn die beiden ihm zugeteilten Gehilfen waren höchstens bei den dekorativ. Teilen tätig), bieten ein besonderes Interesse als Einleitung zu dem großen Werk der Galerie Farnese und vor allem deshalb, weil schon hier sich eine Stilwandlung des Künstlers durch die römischen Eindrücke kundgibt. Im einzelnen sind noch viele Anklänge an Correggio vorhanden; doch auch neue Züge tauchen auf. Aus den vielen Studien zu den Bildern läßt sich das neu erwachte Interesse des Künstlers an der Form und der Zeichnung erkennen. Er soll mit großem Eifer die Antike studiert haben, aber auch Raffael und Michelangelo waren von Einfluß auf seine neuen künstlerischen Bestrebungen. Man sagte von ihm, er hätte besser gemalt in Bologna, besser gezeichnet in Rom. In den Herkulesfiguren sieht die neuere Forschung z. B. schon den Eindruck der Statue des farnesischen Herkules, der im Hof des Palastes stand und den er gezeichnet hat. Alle diese Einflüsse zusammen bewirkten die Wandlung von der bolognesischen zur römischen Kunstauffassung. Wir bemerken auch, daß sich später - in der Galerie Farnese - der Unterschied in der Malweise der beiden Brüder viel stärker ausprägt, als in Bologna, wo noch mehr ein einheitlicher Stil der Werkstätte vorhanden war. Bei den Arbeiten in der Galerie Farnese war Annibale sicher der Leiter des Ganzen; Agostino, der etwa 1597 nach Rom kam und sich nach fortwährenden Zwistigkeiten schon 1600 mit seinem Bruder vollkommen entzweite, sowie der etwa 1602 dazugekommene Domenichino führten nur einzelne Teile aus. Von Agostino stammen zwei Fresken, "Galatea" und "Aurora und Cephalus"; dem Domenichino ist die "Jungfrau mit dem Einhorn" zuzuschreiben. Die neueste Forschung will ihm auch von größeren Fresken die "Befreiung der Andromeda" und "Perseus im Kampfe mit Phineus" zuteilen, welche früher dem Annibale zugeschrieben wurden. Sicher ist, daß diese Bilder minderwertige Arbeiten sind. Tietze nimmt an, daß diese Fresken, zu denen in Windsor Zeichnungen erhalten sind, 1603-1604 entstanden sind, zu einer Zeit, da Annibales Gesundheit und Gemütszustand schon stark zerrüttet war. Die Arbeit an der Galerie begann wohl 1596 (nach Tietze 1597 oder 98), beendet dürfte sie 1604 gewesen sein. Die Bezahlung war eine sehr geringe; und Annibale, der von Natur aus schwermütig war, scheint durch dieses Unrecht einen schweren Schlag erlitten zu haben und erlangte von dieser Zeit an nie wieder seine volle Gesundheit. Die Galerie ist ein schmaler, ca. 20 m langer, ca. 6 m breiter Saal, mit einer Tür an einer Längsseite, je zwei Türen an den Schmalseiten und drei Fenstern an der zweiten Längsseite. Die Langseiten sind durch Pilaster mit Kompositkapitälen gegliedert, an der Eingangsseite sind Rundbogennischen, in denen ursprünglich antike Statuen standen (jetzt Büsten aus der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts); Weiß und Gold dominieren in der Dekoration. Die außerordentlich reiche Freskendekoration erstreckt sich über die Decke und die mächtige Hohlkehle. Der Künstler fingiert eine rings fortlaufende Balustrade, die, wie man an den Ecken erkennen kann, auf dem Gesimse ruht; in den Ecken öffnet sich ein Ausblick gegen den blauen Himmel, hier erscheinen auf der Balustrade je zwei Putti. Vor diese Balustrade reiht er an den Langwänden rechteckige und runde Felder, durch Hermen getrennt, aneinander; an den Schmalseiten laufen die Felder weiter, aber vor diese stellen sich wieder rechteckige Bilder in Rahmen. In den Ecken erscheinen je zwei steinfarbene Hermen, die einander umschlingen. Auf dem Scheitel der Decke sind an das lange Mittelbild zwei Seitenbilder gereiht, die mit ihrem Rahmen in unmittelbarer Verbindung mit den früher genannten stehen. So haben wir gewissermaßen drei Schalen vor uns: außen die Balustrade, dann vor dieser die lange Reihe von Feldern und an den Schmalseiten noch einmal dieser vorgelagert die gerahmten Bilder; hoch oben über dem künstlichen Bau wölbt sich der blaue Himmel, der zu den Ecken hereinsieht. Die ganze, scheinbar feste Wand ist also eigentlich ein loses Gefüge, das in den Winkeln nicht geschlossen ist und die naturalistische Übereinanderstellung von gerahmten Bildern an den Schmalseiten trägt noch zu diesem Eindruck bei. Das Gerüst wird belebt durch nackte Jünglinge in Naturfarbe, die auf den Sockeln der Hermen sitzen, sowie durch Putti und Masken. Die ganze Komposition entstand erst nach langwierigen Versuchen und Entwürfen in ihrer jetzigen Form Ursprünglich hatte Annibale eine andere Dekoration beabsichtigt. Im Louvre ist cine Skizze erhalten, nach der er wahrscheinlich einen Fries plante, ähnlich wie in den Bologneser Palästen, und zu dem er eine passende Dekoration des Plafonds geben wollte. In den vielen Zeichnungen (meistens im Louvre) läßt sich die äußerst sorgfältige Arbeit verfolgen. Fragt man nach Vorbildern und Ausgangspunkten für die Gesamtdekoration, so könnte man für manches auf einen Saal im ehemaligen Palazzo Poggi (jetzt Universitätsgebäude) in Bologna verweisen, den Pellegrino Tibaldi ausgemalt hat. Die Grundidee aber ist wohl hauptsächlich durch die Capella Sistina beeinflußt; aus den Federzeichnungen Annibales in Windsor ist zu ersehen, wie eifrig er die Sixtinische Kapelle studiert hat. Eine eigentliche Untersicht. wie bei den Deckenmalereien in Parma, ist nicht angestrebt. Es ist klar, daß der Künstler sein Augenmerk auf die beiden viel gerühmten Lösungen einer solchen Aufgabe lenkte, die ihm vor Augen standen: die Farnesina und die Sixtina. Von einer starken Nachempfindung im großen und ganzen ist in beiden Fällen nichts zu sehen, es sind nur einzelne Züge entlehnt. Schon daß er die leichte Abgrenzung durch Festons, wie in der Farnesina, nicht übernahm und dafür schwerlastende Rahmen wählte, ist bezeichnend; er verzichtet auf das Anmutige im Schmuck der Farnesina. Während in der Farnesina dia Disposition aus dem Motiv fließt, der Hauptgedanke den ersten Platz einnimmt und die Nebenereignisse als Episoden behandelt werden, fehlt dieses ordnende Prinzip in der Galerie Farnese. Wer das "concetto" der Fresken ersonnen hat, ist nicht ganz klar, es heißt, Agostino hätte es mit Hilfe des Monsignore Agucchi entworfen. Der Grundgedanke des Themas im großen und ganzen ist die Macht der Liebe als der alles bewegenden Gewalt, erläutert durch Motive aus der antiken Mythologie. Bellori hat später den Darstellungen bis in die kleinsten Züge allerlei moralisierende Bedeutung unterlegt; es war eben ein Zug der zeitgenössischen Dichtkunst und Malerei den mythologischen Vorstellungen einen fremden, moralisierenden Sinn unterzuschieben. Die einzelnen Fresken aufzuzählen würde hier zu weit führen (Tietze gibt einen genauen Katalog); wichtig ist, daß auch für die einzelnen Bilder zahlreiche Studien gemacht würden. Besonders für das große Mittelbild, der "Triumphzug des Bacchus und der Ariadne" sind zahlreiche Studien im Louvre und in der Albertina erhalten, sowohl für die gesamte Komposition, als auch für einzelne Figuren, bei welchen es nicht an Naturstudien fehlt. Bei diesem Mittelbild springt es in die Augen, daß sich der Künstler in der Anordnung von Szenen auf römischen Sarkophagen inspirieren ließ. Für die Orientierung über Annibales Werke aus der letzten Zeit ist es wichtig, festzuhalten, daß er eine große Werkstätte in Rom besaß, in der eine ganze Reihe von später berühmten Malern als seine Gehilfen arbeiteten. Neben Innocenzo Tacconi und Lucio Massari erschien um 1602 Francesco Albani in der Werkstätte, Guido Reni war um diese Zeit wohl auch in Rom, stand aber mit Annibale nicht auf gutem Fuße. Außerdem waren als Schüler Sisto Badalocchio und Giovanni Lanfranco vorhanden, die Hauptstütze des Ateliers war aber Domenichino. Das Verhältnis Annibales zu seinen Schülern wird als ein sehr freundschaftliches geschildert; als der Meister durch Krankheit und Schwermut zeitweilig unfähig zur Arbeit war, ging manche Arbeit unter seinem Namen aus der Werkstatt hervor, die zum größten Teil von den Schülern ausgeführt war. Die neuere Forschung versucht die eigenhändigen Werke und die Werkstattbilder auseinanderzuhalten. Die Bilder "Pan lehrt Apollo die Flöte blasen" und "Silen Trauben pflückend" (London, Nat.- Gal.) schreibt Tietze dem Albani zu, der sie tinter dem direkten Einfluß von Annibale ausgeführt hat. Für das erste Bild weist Tietze antike Vorbilder nach. Weiterhin meint Tietze, daß die "Schlafende Venus" in Chantilly, die von den Zeitgenossen so viel bewundert wurde, von Annibale nur entworfen und von Domenichino ausgeführt sei. Zu der Hauptfigur ist eine Zeichnung von Annibale in Frankfurt (Staedelsches Institut) erhalten. Damit wären auch die "Aurora" und die "Nacht" im gleichen Museum, die zu der Venus gehören, als Werkstattarbeiten zu betrachten. Die "Grablegung" in der Galerie Borghese schreibt derselbe Autor dem Lanfranco zu; von Badalocchio stammt nach Tietze "Salmacis und Hermaphrodit" in der Galerie Rospigliosi, Rom (No 50) und die "Grablegung" im Museo Nazionale, Neapel, die dem Lodovico zugeschrieben wird. Während es in einzelnen Fällen schwierig ist, den Anteil der Schüler festzustellen, da wir über Annibales letzte Lebensjahre nur unklar unterrichtet sind, steht es bei den Fresken für die S. Diego-Kapelle in S. Giacomo de' Spagnuoli fest, daß er die Ausführung gänzlich dem Albani überlassen hat. Annibale hat zwar den Auftrag zu diesen Fresken erhalten, aber sein Anteil daran ist ein äußerst geringer. Soviel über die Werkstätte. Zu den sicher eigenhändigen Werken des -Meisters gehört die "Himmelfahrt Mariae". (Rom S. Maria del Popolo, zwischen 1599-1601). Der Einfluß Correggios ist nur noch sehr gering, römische Eindrücke überwiegen, die kräftigen Farben lassen erkennen, daß Annibale die Werke von Michelangelo da Caravaggio mit Interesse studiert hat. Die ganze Art und Weise, wie die Madonna in einem schweren faltenreichen Gewaild mit ausgebreiteten Armen unmittelbar über den Köpfen der leidenschaftlich bewegten, dicht gedrängten Apostelgestalten emporstrebt - nicht schwebt - ist typisch für die Zeit. Seine Schüler haben die Komposition direkt oder etwas geändert übernommen. Als gesichertes Werk Annibales gilt weiterhin das "Christuskind mit dem kleinen Johannes" (Windsor, um 1603) bekannt unter dem Namen "Le silence des Carraches"; eine Wiederholung von Domenichino befindet sich im Louvre. Um diese Zeit entstand auch ein Zyklus von sechs Lünettenbildern für die Kapelle des Palazzo Aldobrandini, die heute in der Galerie Doria Pamphili aufbewahrt werden. Sie sind teilweise aus der Werkstatt hervorgegangen, die "Flucht nach Ägypten" aber ist sicher von dem Meister selbst. Das Bild gehört zu jenen großzügig komponierten Landschaften, mit denen Annibale eine Richtung der Naturbeobachtung inauguriert hat, welche bei Nikolaus Poussin so vollendet zum Ausdruck kommt. Alles Kleinliche ist vermieden, Architektur, Bergzüge und Baumgruppen werden als große Massen behandelt; man hat dafür die Bezeichnung "Heroische Landschaft" geprägt. Ein verwandtes Bild ist die "Bergige Landschaft", Berlin, Kaiser Friedrich-Mus. Auch bei dem Gemälde "Christus erscheint Petrus" (London, Nat.-Gal.) ist die Landschaft der wertvollste Teil. Die Stellung des erschreckten Petrus, der gewaltsam zusammenfährt, ist typisch für die Zeit; eine Seelenstimmung mit krassen Gebärden zu schildern ist ein Zeichen der Epoche, man sehe den "reuigen Petrus" (Turin, Pinakothek). Zu seinen reifsten Werken zählt das Bild "Christus und die Samariterin", (Wien, k. Gemäldegal.), eine Perle der ganzen Zeit. Die Szene spielt ruhig und andachtsvoll in einer weiten Landschaft. Man geht wohl nicht fehl, dieses abgeklärte Bild in die letzte Zeit seines Lebens zu setzen, wo der Künstler, befreit von seelischen u. körperlichen Leiden, wieder eine Periode ungestörter Schaffenskraft erlebte. Von seinen Porträts seien der "Lautenspieler" (Dresden, Galerie) und das "Männliche Bildnis" in München (Pinakothek) genannt. Annibale hat sich auch häufig mit Kupferstich und Radierung beschäftigt. Zu den besten Arbeiten gehören die "Madonna mit der Schwalbe" von 1587 (B. 8), die "Heilige Familie" von 1590 (B. 11) und der berühmte "Cristo di Caprarola" von 1597 (B. 4) (Kristeller). Dank den Nachforschungen Tietzes steht uns die Persönlichkeit Annibales klarer vor Auge; als jene von Agostino und Lodovico C., denn die vielfach widerspruchsvollen, persönlich gefärbten Darstellungen der alten Berichterstatter lassen uns in den meisten Fällen ganz im Unklaren. Künstlerische Sorgfalt u. Gewissenhaftigkeit kennzeichnen Annibales Schaffen, wenn er an große Werke schreitet. Er ist kein "Fa presto" und das will in seinen Tagen viel sagen. Er weiß die "naturalezza" voll zu schätzen, aber er verfällt nicht in Trivialität, denn die Szenen aus dem Alltag, die ihm zugeschrieben werden, sind vereinzelte Skizzen und überdies nicht voll gesichert (Bohnenesser, Rom Gal. Colonna). Neuerungen, malerische Probleme, wie sie etwa Caravaggio versuchte und bisweilen glänzend durchführte, waren seine Sache nicht. Ihm war das Erbe der Großen von Parma und Rom ein kostbares Gut, die Tradition vermochte ihn aber nicht als Individualität zu erdrücken; er war in seinem Hauptwerke kein geistloser Gefolgsmann der großen Vorbilder, sondern wußte die Aufgabe einer großangelegten Innendekoration mit neuen Mitteln zu läsen. Sein Streben ging nach Pathos in der Kunst; zu seiner Zeit klang es rein, für unser Empfinden hat es öfter als einmal einen falschen Ton. Unter seinen Schülern hat ihn wohl Domenichino am besten verstanden (Kommunion des hl. Hieronymus); voll nachempfunden, glänzend weitergeführt, - in unserem Sinn, - hat ihn ein Landfremder: Nikolaus Poussin. über die Stellung Annibales innerhalb der Kunst seiner Zeit sind vielfach schiefe Urteile gefällt worden. Es ist wohl nicht anzunehmen, wie oft behauptet wurde, daß die Carracci sich mit bewußter Absicht ein künstlerisches Programm zurechtgelegt hätten, mit dem sie sich in Gegensatz zu ihren Zeitgenossen stellen wollten. Annibale war kein Feind von Michelangelo da Caravaggio, weder persönlich noch künstlerisch. Wenn im Laufe des 17. Jahrhunderts im italienischen Kunstleben deutlich zwei Richtungen gegenüberstehen und die Carracci bei diesen Kämpfen immer wieder als die Vertreter der einen Richtung genannt werden, so erklärt sich dies eben aus dem Umstand, daß sie der Tradition treu geblieben waren und einzelne Schüler des Annibale direkte Gegner der Kunstrichtung eines Micheliingelo da Caravaggio wurden. Literatur siehe unter Agostino Carracci.