Frei zugänglich

Viola, Bill

Geboren
New York City, 25. Januar 1951
Gestorben
Long Beach (California), 12. Juli 2024
Land
Vereinigte Staaten
Geschlecht
männlich
GND-ID
Weitere Namen
Viola, Bill
Berufe
Videokünstler*in; Installationskünstler*in; Performancekünstler*in; Zeichner*in; Fotograf*in; Bühnenbildner*in; Soundkünstler; Musiker; Autor
Wirkungsorte
New York, Long Beach (California)
Zur Karte
Von
Bartz, Jürgen
Zuletzt geändert
14.07.2024
Veröffentlicht in
AKL CXIII, 2021, 347

VITAZEILE

Viola, Bill, US-amer. Video-, Sound-, Installations- und Performancekünstler, Zeichner, Fotograf, Bühnenbildner, Musiker, Autor, *25.1.1951 New York, †12.7.2024 Long Beach/Cal., verh. mit der austral. Fotografin Kira Perov.

LEBEN UND WIRKEN

V. wächst in New York City auf. Die Mutter ist Engländerin, der Vater Amerikaner, die Großeltern sind ital. Einwanderer. Schon im frühen Kindesalter fällt V.s zeichnerisches Talent auf. Zeichnen, Malen und später Musik spielen in der Kindheit und Jugend eine zentrale Rolle. Ab 1969 Stud. der Malerei und elektronischen Musik an der Syracuse Univ. (N.Y.) bei Franklin E. Morris. 1971 Wechsel an die Experimental Studios am College of Visual and Performing Arts, Syracuse Univ., wo ihn sein Lehrer Jack Nelson stark beeinflusst. 1970 erste Arbeiten mit Super-8-Film, kurz darauf Filme mit einer S/W-Videokamera und erste Produktionen von Videoclips sowie Videoinstallationen. 1970-73 Mitgl. der Videogruppe Synapse, mit der V. ein Kabelfernsehsystem und ein erstes Farbstudio einrichtet und betreibt. 1972 erste Videotapes (z.B. Tape I). Als Videopräparator am Everson MoA in New York (1972-74) assistiert V. etablierten Videokünstlern wie Bruce Nauman, Nam June Paik, Peter Campus und Frank Gillette. Im gleichen Jahr erste Präsentation von Videotape-Arbeiten in der Ausst. St. Jude Invitational Exhib. (S.Clara/Cal., De Saisset Mus.). 1973 BFA in den Experimental Studios am College of Visual and Performing Arts, Univ. of Syracuse. Im gleichen Jahr Teiln. am Sommer-Workshop in Neuer Musik in Chokorua/N.H. und Stud. bei dem avantgardistischen Komponisten, Pianisten und Pionier der live-elektronischen Musik David Tudor, dabei beginnt eine lebenslange Freundschaft. Mitarb. in Tudors und Merce Cunninghams Rainforest-Projekt und Ensemble-Mitgl. von Composers Inside Electronics (CIE). Ebenfalls im gleichen Jahr erste Einzelausstellung im Everson MoA in Syracuse (New Video Work). 1974-76 Aufenthalt in Italien; Techn. Direktor und Produktionsleiter beim art/tapes/22 Videokunststudio in Florenz. Dort Kontakt zu Künstlern wie Giulio Paolini, Jannis Kounellis, Mario Merz, Vito Acconci, Joan Jonas, Terry Fox und Arnulf Rainer. 1975 erstmaliger Einsatz einer tragbaren Farbvideokamera, Präsentation der ersten größeren Video-Klang-Installation Il Vapore im unabhängigen Kunstraum Zona in Florenz. 1976-81 Artist in Residence bei dem New Yorker Fernsehsender WNET Thirteen Television Laboratory, wo wichtige Videoarbeiten entstehen (z.B. 1977-79 The Reflecting Pool, CHOTT el-DJERID [a portrait in light and heat] und 1978 The Ancient of Days). 1976 erster Japanaufenthalt. V. beschäftigt sich zunehmend mit mystischer Literatur. 1977 lernt V. in Australien seine spätere Frau Kira Perov kennen (1980 Heirat), mit der er ab 1978 eng zusammenarbeitet. Sie ist u.a. Geschäftsführerin seines Studios, dokumentiert fotogr. die Produktionsprozesse und engagiert sich publizistisch und als Kuratorin für V.s Werk. 1980-81 Japanaufenthalt. Stud. trad. jap. Kultur und mod. Videotechnik sowie Stud. des Zen-Buddhismus bei dem Zen-Meister Daien Tanaka. Ab 1981 lebt V. dauerhaft im südkalifornischen Long Beach. 1983 Lehrauftrag für Advanced Video am California Inst. of the Arts in Valencia, Kalifornien. 1986 erstes spielfilmlanges Videotape I Do Not Know What It Is I Am Like, ein enigmatisches Video, in dessen meditativen Einstellungen u.a. eine Eule zu sehen ist, in deren schwarzer Pupille sich nach einem ausgedehnten Zoom das Bild des Künstlers spiegelt. Dieses Arbeiten mit extrem langsamen Zoom-Einstellungen, an deren E. sich ganz unerwartete Bilder einstellen, wird char. für V.s künstlerische Praxis. Erster Ankauf einer Rauminstallation (Room for St. John of the Cross) durch das MCA Los Angeles. 1987 Auftrag des ZDF für The Passing, eine Videoarbeit über Geburt, Tod und Wüstenlandschaft (voll. 1991). 1988 Geburt des ersten Sohnes Blake, Febr. 1991 Tod der Mutter, im Nov. Geburt des Sohnes Andrei, 1999 Tod des Vaters. Die familiären Einschnitte verarbeitet V. z.T. auch in seinen Werken. Für The City of Man arbeitet V. 1989 erstmals mit computerkontrollierten Videodiscs. Einf. veränderter Bildproportionen und erste Werke in der trad. Triptychonform. Erster Einsatz der Videolaserdisc-Technologie als programmiertes Playbackmedium in Mehrkanalinstallationen. Die Aufzeichnung eines menschlichen Geburtsvorgangs führt zu einer langjährigen Auseinandersetzung mit den Themen der Condition humaine. Auftrag des MMK Frankfurt am Main für The Stopping Mind, eine Video-Klang-Installation, die zehn Jahre lang dauerhaft im Mus. gezeigt wird. 1990-91 Weiterentwicklung der Zufalls- und Selbstmontagestrukturen am Computer. 1992 Mehrere Installationen zu den Themen Schlaf, Tod, Geburt und Sterblichkeit. Erste Arbeit mit einem 35-mm-High-Speed-Film (The Arc of Ascent). Beginn der bis heute fortdauernden Zusammenarbeit mit dem Kameramann Harry Dawson. 24-stündige Videoproduktion To Pray Without Ceasing. Zus. mit dem MBA Nantes entsteht das projizierte Altartriptychon Nantes Triptych für die Chap. de l'Oratoire in Nantes. 1993 Erkundung der Grenzen der Wahrnehmung durch den Einsatz von Restlicht- und Infrarotkameras, die kaum sichtbare Bilder liefern (Tiny Deaths und Pneuma). Auf Einladung des Ensemble Mod., Frankfurt am Main, und der Arte-Redaktion des ZDF, Mainz, entwickelt V. 1994 eine Stage-Performance nach Edgar Varèses Komp. Déserts (1954). 1996 erhält V. den Auftrag für die großflächige Videoinstallation The Messenger für die Kathedrale von Durham. Mit der Installation The Tree of Knowledge produziert er 1997 seine erste interaktive Computergrafik. 1999 beginnt V. ausgedehnte Projekte mit professionellen Schauspielern, die zukünftig in vielen Produktionen mitwirken, z.B. in der Ser. The Passions, für die ab 2000 erste Werke entstehen, entwickelt für digitale Flachbildschirme und Plasmadisplays. 2004 Beginn der Zusammenarbeit mit dem Regisseur Peter Sellars und dem Dirigenten Esa-Pekka Salonen; Beteiligung an einer Neuinszenierung der Wagner-Oper Tristan und Isolde (Weltpremiere 2005, Opéra Nat. de Paris, Bastille). 2005 Reise mit der Fam. nach Dharamsala, Indien, um vom Dalai Lama einen Gebetssegen zu erhalten. 2007 entsteht die Ser. Transfigurations. 2012 Produktion der 25 Meter breiten und 5 Meter hohen Installation Crossroads für den Hamad Internat. Airport, Doha, Katar (voll. 2015). Abschluss der Mirage-Serie. 2013 Fertigstellung der Ser. Frustrated Actions, Water Portraits sowie von Self-Portrait, Submerged für die Uffizien, Florenz. Ab 1976 begleitet eine rege Reisetätigkeit seine Arbeiten, die V. in versch. Länder und Kontinente führt, u.a. nach Europa, Tunesien, Australien, Indonesien, Indien, Japan, China. Die meisten Reisen sind Arbeitsaufenthalte. So dokumentiert V. 1976 auf den Salomonen im Südpazifik trad. Musik und Tänze sowie den Morokult. Ein Jahr später zeichnet er auch auf Java und Bali trad. Musik und darstellende Künste auf. 1979 filmt er winterliche Prärie-Lsch. in Saskatchewan, Kanada, einige Monate später Luftspiegelungen in der Sahara in Tunesien. Bei einem Besuch buddh. Klöster in Ladakh 1982 entstehen Tonaufnahmen von Ritualen und trad. Musik, 1984 auf den Fidschi-Inseln Filmaufnahmen hinduistischer Feuerlaufzeremonien. 1987 fünfmonatige Reise durch den SW der USA, Besuch archäol. Fundorte, Dokumentation früher Felskunststätten der Ureinwohner und Aufnahmen nächtlicher Wüstenlandschaften mittels spezieller Videokameras. 2001 studiert V. in der Toskana Freskenzyklen des Spätmittelalters und nimmt 2012 Lichtspiegelungen in der kalifornischen Mojave-Wüste auf. - V., Pionier und führender Vertreter der Videokunst, zählt internat. zu den bekanntesten, erfolgreichsten und einflussreichsten Gegenwartskünstlern. Seit Beginn seiner Laufbahn setzt er mit der Erforschung und Weiterentwicklung elektronischer Bild- und Tontechniken Maßstäbe, trägt wesentlich zur Erweiterung der Kunstform Video bei und hat an deren Etablierung entscheidenden Anteil. V. erhält zahlr. Preise, Ausz. (u.a. zehn Ehrendoktortitel) sowie Stip. und wird regelmäßig durch Ausst., Retr., große Aufträge, wichtige Ankäufe und Publ. geehrt. 1977, '87 und '92 nimmt er an der documenta in Kassel teil (K) und repräsentiert 1995 die USA auf der Bienn. von Venedig (Buried Secrets, Installation aus fünf Videosequenzen; K). Sein Werk ist weltweit in bed. Mus. und wichtigen Slgn vertreten. Immer wieder sind V.s Arbeiten aber auch scharfer Kritik ausgesetzt. Insbes. die späteren Werke werden als obsessiv, selbstgefällig, pompös, esoterisch, pseudo-spirituell bis hin zu kitschig und banal beschrieben. Ein Hauptvorwurf zielt auf V.s Pathos, das bewusst mit dem Faktor der Überwältigung spiele. Dennoch wird sein Werk vom Großteil des Publikums wie auch von der internat. Fachwelt bewundert und hoch gelobt. Das in mehr als fünf Jahrzehnten entstandene, äußerst umfangreiche Œuvre, das sich aus Zyklen, Ser. und Werkgruppen zusammensetzt, umfasst Videotapes, Videoinstallationen, Sound-Environments, elektronische Musikperformances sowie Fernsehproduktionen, die durch zahlr. Publ. dok. sind. Entscheidende Impulse erhält V. während seines zweijährigen Florenzaufenthalts. Inhaltlich kreist sein Werk um archetypische Themen, um Selbsterkenntnis und die Suche nach einem Sinn in der Welt und um die essenziellen Menschheitsfragen: Wer sind wir, woher kommen wir, wohin gehen wir. Neben visuellen und akustischen Naturphänomenen sowie lit. und kunsthist.Vorbildern verarbeitet V. unterschiedlichste Quellen, v.a. aus östlichen und westlichen spirituellen Traditionen. Der chin. Taoismus, das Schamanentum indigener Völker und europ. Phil. fließen ebenso in sein Werk ein wie Elemente aus dem Bereich der Physiologie, Psychologie und Neurologie. V.s Unters. zu den Beziehungen zw. Mensch, Natur und Kultur sowie seine Auseinandersetzung mit existenziellen Grunderfahrungen führen zu den das Werk bestimmenden universellen Themen Geburt, Tod und Wiedergeburt, Aspekten wie Leid, Apokalypse, Katharsis, Erlösung, Auferstehung, Verwandlung, Verklärung und Bewusstwerdung. Diese Themen übersetzt V. in eine emblematische, kraftvoll-suggestive, ästhetische Bildsprache und in mysteriöse, allegorische Szenen. Sein Bestreben ist es, das Unsichtbare sichtbar zu machen, innere Bilder wiederzugeben und Übergänge darzustellen. Dazu schöpft er von A. an sämtliche Möglichkeiten des Mediums Film aus, überzeugt davon, dass sich z.B. Erfahrungen spiritueller Phänomene mithilfe mod. Medientechnologien visualisieren lassen. Da V. sein Werk immer auch theoretisch reflektiert, fügt er jeder Videoarbeit einen schriftlichen Kommentar zur Erläuterung bei, z.T. ergänzt durch Werkskizzen. Seine Videos reichen von kurzen Clips bis zu mon. Plasmaarbeiten und zu ausgedehnten, spielfilmlangen Werken in Slow-Motion-Technik, die dem Betrachter viel Geduld und Aufmerksamkeit abverlangen. V.a. in den späteren Arbeiten bindet V. das Publikum verstärkt physisch in seine Werke mit ein (Sleepers, 1992). Im Lauf der Jahre entwickelt sich das Œuvre unter Einbeziehung der jeweils neuesten Technik von den ersten, relativ einfachen experimentellen Videos über die bahnbrechenden Arbeiten der 1970er und 80er Jahre hin zu immer aufwendigeren Produktionen von höchster techn. Perfektion (studiobasierte High-Definition-Filme). Auch die Installationen werden immer raumgreifender und operieren zunehmend mit Spezialeffekten. Z.T. produziert V. seine Arbeiten in Hollywood-Studios und beschäftigt ein Großaufgebot an Schauspielern, z.B. bei der im Closed-Circuit-Verfahren entstehenden, fünfteiligen Panoramainstallation Going Forth By Day (voll. 2002, im Auftrag der Dt. Guggenheim Berlin), an der ca. 200 professionelle Schauspieler, Komparsen und Stuntleute beteiligt sind. Die Arbeit an diesem bislang größten Projekt erstreckt sich über drei Jahre, wobei allein die Herstellungszeit sechs Monate beträgt. Um die enormen Anforderungen solcher Projekte bewältigen zu können, bedient sich V. vielköpfiger Produktionsteams mit Spezialisten und Helfern aus versch. Bereichen. Für seine immersiven Video- und Sound-Environments setzt V. modernste mediale Produktionsmethoden ein: Großprojektionen, Zeitlupen, Zeitraffer, Überblendungen, Loops, extreme Mikro- und Makroaufnahmen, präzise Tonbearbeitungen. V. spielt in seinen Arbeiten mit dem Verhältnis von Raum, Bild und Körper und untersucht, wie sich deren Wahrnehmung durch das Phänomen Zeit verändert. So sind neben dramatischen Lichtführungen und dem Einsatz von Sound und Störgeräuschen insbes. verlangsamte Bildfolgen char., die die reale Zeit extrem dehnen und Alltagssituationen verlängern. Sie sollen ein and. Zeit- und Wirklichkeitsgefühl vermitteln und das Raum-Zeit-Verhältnis für das Publikum erfahrbar machen. Lange Standbilder etwa evozieren den Eindruck einer bereits vergangenen, sich in ständiger Verwandlung befindlichen Gegenwart. Eine der frühesten und für V.s Karriere zentralen Arbeiten ist die 1977 auf der documenta gezeigte Sound-Video-Installation He weeps for you (1976). Extrem langsam löst sich aus einem Wasserhahn ein Wassertropfen, der, direkt angestrahlt, in Supernahaufnahme als Großbild an die Wand projiziert wird. Nähert sich der Betrachter dem Hahn, spiegelt sich sein Bild auf der Wasseroberfläche und erscheint als entsprechend verzerrte Projektion auf der Wand. Mit der wachsenden Größe der Wassermenge verändert sich wie in Zeitlupe das Bild des Betrachters und endet abrupt mit dem Herabfallen des Tropfens, der auf ein Trommelfell aufschlägt. Das dabei entstehende Geräusch wird durch Lautsprecher verstärkt. Ein neuer Tropfen bildet sich, und ein scheinbar endloser Kreislauf setzt ein. V. zeigt also kein aufgezeichnetes Video, sondern nutzt die Technik, um ein Geschehen in Echtzeit auf die Projektionsfläche zu übertragen. 1992 gelingt V. mit Nantes Triptych, einem Hw., der künstlerische Durchbruch. Das Triptychon, dessen christlich konnotierte Form bewusst gewählt ist, thematisiert auf drei lebensgroßen Videowänden in eindringlichen, drastischen Bildern Geburt, Schlaf und Tod. Während auf der rechten Projektionsfläche das Sterben von V.s eig. Mutter zu sehen ist, wird parallel dazu auf der linken Fläche die natürliche Entbindung eines Kindes gezeigt (inspiriert durch die Geburt von V.s erstem Sohn). Auf der mittleren Projektionsfläche ist, verschwommen und geheimnisvoll beleuchtet, ein bekleideter Mensch mit geschlossenen Augen zu sehen, der wie in Trance einsam im dunklen Wasser schwebt und damit gewissermaßen einen Zwischenzustand darstellt. Hinterlegt sind die drei Passagen mit einer 30-minütigen Soundtrack-Schleife aus Weinen, Atmen und Wassergeräuschen. Weitere Allegorien auf das Leben zw. Werden und Vergehen sind die seiner verstorbenen Mutter gewidmete S/W-Arbeit The Passing (1991), die V. als sein wichtigstes Video bezeichnet, sowie Heaven and Earth (1992). Beide verwenden u.a. dasselbe Filmmaterial, das V.s sterbende Mutter zeigt und auch Tl von Nantes Triptych ist. Dennoch unterscheiden sich die Arbeiten fundamental voneinander. Die 54-minütige Videoarbeit The Passing wird später zu einer großformatigen Version aufbereitet. Heaven and Earth hingegen besteht aus zwei gehäuselosen Monitoren, die jeweils auf identische Holzsäulen montiert sind. Eine Säule hängt von der Decke herab, die and. ist am Boden fixiert. Beide Monitore sind in geringem Abstand einander zugewandt, sodass sich das Bild der Sterbenden auf dem Bild des wach in die Welt blickenden Neugeborenen spiegelt. V.s beherrschendes Leitmotiv ist Wasser, christliches Symbol für die Quelle des Lebens, für Geburt, Reinigung und Läuterung. Hintergrund dieses Motivs ist nach V.s eig. Angabe ein traumatisches Ereignis seiner Kindheit, bei dem der damals Sechsjährige in einem Bergsee fast ertrinkt. Dieses Schlüsselerlebnis seiner Nahtoderfahrung, bei dem sich das grauenhafte Gefühl des Ertrinkens mit angenehmen Gefühlen der Schwerelosigkeit verbindet, findet später in zahlr. Arbeiten seinen Niederschlag: Menschen, die ins Wasser eintauchen, die darin untergehen oder aus diesem auftauchen, die schwerelos im Wasser schweben oder von sintflutartigen Wassermassen übergossen werden (z.B. The Reflecting Pool, 1977/80; Stations, 1994; Going Forth By Day, 2002). Auch mit dem Motiv Feuer arbeitet V. wiederholt, z.B. bei der Installation The Crossing (1996), einer Doppelprojektion mit Vorder- und Rückseite. In dem mit bedrohlichen Geräuschen hinterlegten Video auf der einen Seite verglüht in zunehmend heftiger werdenden Flammen ein Mann zu Asche; auf der and. Seite ist der gleiche Mann zu sehen, dem herabtropfendes Wasser aufs Haupt fällt, das allmählich zu einem immer stärker werdenden Wasserfall anschwillt, unter dem sich die Figur schließlich auflöst: eine sinnbildhafte Gegenüberstellung von Vernichtung (im Höllenfeuer) und Erlösung (durch Reinigung und Läuterung). Die aus vier großen, vertikalen Flüssigkristallbildschirmen bestehende Installation Martyrs (Earth, Air, Fire, Water) (seit 2014 dauerhaft in London, St. Paul's Cathedral) zeigt in Endlosschleife und in pathetischen Bildern eine Frau und drei Männer, die gegen die vier Elemente Erde, Wind, Feuer und Wasser ankämpfen. Ebenso schlägt sich V.s Verehrung der Alten Meister, insbes. der Maler der Renaiss. in vielen seiner Arbeiten nieder. Zitiert werden etwa Sandro Botticelli, Lucas Cranach, Albrecht Dürer, Lorenzo Lotto, Piero della Francesca oder Paolo Uccello (z.B. dessen "Die Sintflut und der Rückgang der Wasser", Florenz, S.Maria Novella). Bes. deutlich zeigt sich diese kunsthist. Leidenschaft jedoch in dem Video The Greeting (1995), das eine Reverenz an die berühmte "Heimsuchung" (1528/29) des Florentiner Manieristen Jacopo da Pontormo ist. Das als Video in die Jetztzeit übersetzte Gem. ist als eine Art Tableau vivant angelegt. Wie das Vorbild zeigt es einen pyramidalen Bildaufbau und schildert vor ebenfalls dunklem Hintergrund die Begegnung von Maria und Elisabeth, die V. als mod. Frauen in leuchtend farbiger Kleidung darstellt. Zu ihnen gesellt sich, and. als bei Pontormo, statt zwei weiteren nur eine dritte Frau. V. dehnt die reale Spielzeit der Begegnung von 55 Sekunden auf zehn Minuten aus, wodurch sich die Figuren nur unmerklich bewegen, so, als würde ein starres Bild langsam zum Leben erwachen.

WERKE

Bonn, KM. Frankfurt am Main, MMK. Karlsruhe, ZKM, Mus. für Neue Kunst. Edinburgh, NG of Scotland. London, Tate Modern. Madrid, MNCARS. New York, MoMA. Paris, Fond. Cartier. Pittsburgh/Pa., Carnegie MoA. Zürich, Kunsthaus.

AUSSTELLUNGEN

Einzelausstellungen:

1992 Düsseldorf, KH (Wander-Ausst.) / 1996 Stuttgart, KV / 1998 Los Angeles (Cal.), LACMA (Retr., Wander-Ausst.) / 2002 Berlin, Dt. Guggenheim Berlin / 2003 Los Angeles (Cal.), Getty Mus.; London, NG / 2004 Bilbao, Mus. Guggenheim / 2005 Luzern, KM / 2006 Tokio, Mori AM / 2007 Rom, Pal. delle Espos. / 2010 Neapel, MN di Capodimonte / 2012 Varese, Coll. Panza / London: 2013 Blain Southern Gall.; 2019 RA / 2017 Hamburg, Deichtorhallen; Florenz, Pal. Strozzi (Retr.) / 2019 Philadelphia (Pa.), Barnes Found / 2020-21 Brüssel, MRBAB. -

 

Gruppenausstellungen:

1996 Basel, Mus. für Gegenwartskunst: Fremdkörper / 2004 Klosterneuburg, Slg Essl: Visions of America / 2009 Newark (N.J.), Newark Mus.: Unbounded / 2010 Wien, MUMOK: Changing Channels / 2010-11 Bern, KM: Ich sehe, also weiss ich (nicht) / 2011 Istanbul, MMA: Paradise Lost / 2011-12 Wolfsburg, KM: Die Kunst der Entschleunigung / Paris: 2012 Centre Pompidou: Vidéo Vintage; 2014 Mus. de la Conciergerie: À triple tour (alle K).

 

QUELLEN

Weitere Lexika:

I.F. Walther, Künstler-Lex., in: Kunst des 20. Jh., II, Köln u.a. 1998; P.C. Scorzin, in: Künstler. Kritisches Lex. der Gegenwartskunst, Ausg. 49, H. 8, M. 2000; Delarge, 2001

 

Gedruckte Nachweise:

R.Violette/B.V./K.Perov (Ed.), Reasons for knocking at an empty house, C. 1995; A.Janhsen, Kunst sehen ist sich selbst sehen: Christian Boltanski - B.V., B. 2005; H.Fischer, Passion for art, Klosterneuburg 2014; J.G. Hanhardt, B.V., K.Perov (Ed.), Lo. 2015

 

Onlinequellen:

Website V.